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Berliner Aufklaerung - Roman

Berliner Aufklaerung - Roman

Titel: Berliner Aufklaerung - Roman
Autoren: Thea Dorn
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auf.

LICHTUNG
    Anja schlug die Augen auf. Irgendwo läuteten Kirchenglocken. Einen Moment lang blinzelte sie irritiert in das herbstliche Morgenlicht, das durch das Zimmer flutete, dann erinnerte sie sich wieder, daß sie bei Susanna war. Gestern abend, nach ihrem Unfall, hatte sie sich vom Abschleppdienst zu ihr bringen lassen. Susanna hatte darauf bestanden, Anja zum Röntgen in ein Krankenhaus zu fahren, aber eine Tour in Susannas Fiat war das allerletzte, zu dem Anja gestern nacht noch zu bewegen gewesen wäre.
    Ihr taten zwar immer noch alle Rippen weh, aber dank Hektors Airbag, großer Knautschzone und besonders stabilisierter Fahrgastzelle fühlte sie sich ansonsten unversehrt. Hektor selbst befand sich allerdings in einem katastrophalen Zustand. Der Abschleppdienst hatte zweieinhalb Stunden gebraucht, um ihn aus den drei Kiefern zu befreien, die er erst halb gefällt und in denen er sich dann verkeilt hatte. Anja durfte gar nicht daran denken, was jetzt aus ihm würde. Sie wußte nur eines: im Kampf geschlagene Helden brachte man nicht auf den Schrottplatz.
    Anja drehte sich mit einem leichten Stöhnen auf die Seite. Die andere Hälfte des schwarzen Satin-Bettes war leer. Der Wecker zeigte kurz vor elf. Susanna war also schon auf Achse, sie hatte gestern vor dem Einschlafen irgendwas von einer Matinée erzählt, bei der sie singen würde.

    Anja war zwar nicht gerade hellwach, aber dennoch stand sie auf, ohne weitere Umstände zu machen. Soweit sie sich erinnern konnte, war es der erste Morgen in ihrem Leben, an dem sie beinahe froh war, aufstehen zu können.
    In der kleinen, hellen Küche stand ein liebevoll gedeckter Frühstückstisch: frischgepreßter Orangensaft, Milch mit Müsli, Vollkornbrot, pflanzliche Halbfettmargarine und Gemüsesülze. Susanna wußte, daß Anja jegliche Form von Diät- oder Vollwertkost haßte wie die Pest. Auf dem Teller lag ein aufgeschlagenes Buch, die Buchdeckel zeigten nach oben: »Shakespeare, Gesammelte Dramen II«. Anja drehte den Band um, zwei Zeilen waren mit Bleistift angestrichen. »Marschiert nur fort, die Botschaft hinzutragen: Hektor ist tot! Da ist nichts mehr zu sagen.«zu
    Anja klappte das Buch zu. Sie hatte im Augenblick wahrlich andere Probleme, als sich Shakespeares Kommentar zu ihrem Auto anzuhören. Seit gestern abend wußte sie, daß jemand ein akutes Interesse daran hatte, sie aus dem Weg zu schaffen. Hektors Bremsen versagten nicht von selbst. Anja konnte zwar nicht leugnen, daß es Leute gab, die ihren Tod im allgemeinen nicht bedauern würden, aber an so viel Zufall, daß der Anschlag auf sie nichts mit den Philosophenmorden zu tun hatte, wollte sie nicht glauben. Es mußte der Mörder Rebeccas und Schreiners gewesen sein, der gestern sie aus dem Weg hatte räumen wollen.
    Etwas skeptisch begann Anja, den Orangensaft umzurühren und die Milch über das Müsli zu gießen. Anständiger Kaffee war in diesem Haushalt natürlich nicht aufzutreiben und Caro-Kaffee fehlte ihr heute morgen gerade noch. Der erste Löffel Müsli schmeckte
so scheußlich wie erwartet, lustlos rührte Anja in den Körnern herum, die zum Teil an der Milchoberfläche schwammen, zum Teil abgesunken waren.
    Hektors Bremsleitungen mußten durchschnitten und die Kontrollampen kurzgeschlossen worden sein, während er vor Maier-Abendroths Wochenendhaus gestanden hatte. Maier-Abendroth selbst kam nicht in Frage, Anja hatte ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen. Vielleicht hatte es in dem ominösen Hinterzimmer jemanden gegeben, der sich mit Bremsleitungen und Elektrik auskannte. Oder jemand war ihr in den Spreewald gefolgt.
    Abwesend fischte Anja weiter in ihrem Müsli herum. Ihr Blick wanderte über die Brandmauer, die dem Küchenfenster gegenüber lag.
    GOTT IST TOT, GEZ. NIETZSCHE
    NIETZSCHE IST TOT, GEZ. GOTT.
    Zum tausendsten Mal stellte sie fest, daß man es wohl in keiner anderen Stadt außer in Berlin mehr nötig hatte, uralte Sponti-Sprüche an die Wände zu schmieren. Plötzlich ließ Anja den Löffel in das Müsli fallen, daß es quer über den Tisch spritzte. Was hatte an den Glasscheiben vom Postraum damals im Institut gestanden? SCHREINER IST TOT. Eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit mit den beiden Sätzen auf der gegenüberliegenden Wand ließ sich nicht leugnen. Und wie war es weitergegangen? DIE WAHRHEIT IST IM FRAGMENT. Sie war eine ausgemachte Idiotin. Natürlich: Die beiden Sätze waren nicht nur Untertitel zu dem Bild gewesen, das Schreiner im Postraum geboten
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