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Berliner Aufklaerung - Roman

Berliner Aufklaerung - Roman

Titel: Berliner Aufklaerung - Roman
Autoren: Thea Dorn
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hatte, sondern ein eitler Hinweis, wo die wahren Hintergründe der Tat zu finden seien: in den Fragmenten — wenn auch nicht Gottes — so doch Nietzsches.

    Anja mußte in die entfernteren Regionen ihres Hirns hinabsteigen, um das Wenige zu finden, das dort jemals über Nietzsche hineingelangt war. Um die Methoden des Feindes kennenzulernen, hatte sie irgendwann während ihres Studiums »Also sprach Zarathustra« und »Geburt der Tragödie« gelesen. Genauer gesagt hatte sie von beiden Texten die ersten zwanzig Seiten gelesen, danach war in ihr derselbe Unwille gewachsen, der sich eingestellt hatte, als der Lautstärkeregler von Hektors Radio auf lautester Stufe eingefroren war. Daß der Mensch armselig und die Welt beschissen war, wußte sie selbst, und daß Friedrich Nietzsche deshalb glaubte verzweifeln zu müssen, hielt sie für sein persönliches Problem. Und persönliche Probleme interessierten sie in der Regel nur dann, wenn sie zu lukrativen Kunden gehörten.
    Anja konnte sich erinnern, daß eine Posaune in dieser Dauerfanfare des Weltschmerzes die Verherrlichung des »freien Todes« war. Aber Schreiner hatte sich kaum selber umgebracht, und im Zusammenhang mit Rebecca wollte sie von Selbstmord nichts mehr hören. Obwohl … Anja spürte zwei kleine Synapsen in ihrem Hirn zusammenklicken — sie hatte im Zusammenhang mit Rebecca etwas von Selbstmord gehört: und zwar von dieser selbst, am Morgen im Institut. Der Schreiner-Student, der sich umgebracht hatte. Jetzt im Nachhinein kam es Anja sonderbar vor, daß Rebecca ihr überhaupt davon erzählt hatte.
    Während sie mit ihrem linken Zeigefinger in dem Müsli herumrührte, dachte sie darüber nach, wer mehr über diesen Selbstmord wissen könnte.

DAS ERHABENE
    Obwohl der Sonntag strahlend begonnen hatte, waren am frühen Nachmittag dunkle Gewitterwolken aufgezogen. Ein kräftiger Wind kündigte Sturm an. Unter dem gehetzten Herbsthimmel eilte Anja zum Philosophischen Institut. Das sonntägliche, ausgestorbene Univiertel mit seinen Parkanlagen und klassizistischen Villen glich einem evakuierten Sanatorium.
    Anja erreichte das Institut, als die ersten dicken Regentropfen gegen die großen Glasfassaden gepeitscht wurden. In den Scheiben spiegelte sich der schwefelgelbe Himmel. Hinter dem Gebäude, auf der Gartenseite, fand sie Fridtjof, der unter einem Vordach saß und ungerührt in seinen zahlreichen Plastiktüten herumsortierte. Er blickte auf, als er ihre Schritte hörte. »Der Tag ist gekommen.«
    Anja schüttelte sich und trat ebenfalls unter das Vordach. Unter ihrem dünnen Anzug von gestern war sie bereits bis auf die Knochen naß. Fridtjof kramte weiter in seiner Plastiktüte mit Mensageschirr. Der alte Armeeschlafsack, den er sich um die Schultern gelegt hatte, verströmte einen scharfen Geruch.
    »Fridtjof, du mußt mir helfen.«
    Als Fridtjof seinen Namen hörte, überzog ein versonnenes Lächeln sein graues Gesicht — als hätte er soeben das Lieblingsspielzeug seiner Kindheitstage wiedergefunden.
    »Fridtjof, kannst du dich an einen Studenten erinnern,
der bei Schreiner studiert hat? Ein Student, der sich umgebracht hat?«
    Der Clochard hatte die Augen geschlossen und war in einen leichten Wiegenrhythmus verfallen. Anja hielt die Luft an, bevor sie die verfaulende Gestalt an den Schultern schüttelte. »Kannst — du — dich — erinnern? «
    Fridtjof fauchte und schlug Anja den kaputten Regenschirm, der neben ihm gelegen hatte, auf den Rükken. Nachdem sie ihn losgelassen hatte, zog er sich den Schlafsack über den Kopf. Nach einer Weile erklang unter dem Stoff dumpfes Gemurmel. »Zarathustra. Zarathustra ist gegangen. Der Übermensch ist gekommen. «
    Anja ging in die Hocke, um die undeutlichen Laute besser zu verstehen. »Wieso Zarathustra?«
    »Zarathustra ist tot. Der Übermensch ist gekommen. Er hat Zarathustra abgelöst. Seine Zeit ist da.«
    »Fridtjof, ich will mit dir nicht über Nietzsche reden, sondern über einen Studenten, der bei Schreiner studiert hat, so wie du. Und der sich dann umgebracht hat – «
    Unter dem Schlafsack ruckte es. »Zarathustra war verzweifelt. Er ist ins Gebirge gegangen, um sich sterben zu legen.«
    Der Herbststurm war mittlerweile mit ganzer Kraft losgebrochen. Im Institutsgarten krachten morsche Äste. »Fridtjof, es gibt keinen Zarathustra und auch keinen Übermenschen – « Das Heulen des Windes trug Anjas Worte davon. Sie hörte ihre Zähne mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs
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