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Bel Canto (German Edition)

Bel Canto (German Edition)

Titel: Bel Canto (German Edition)
Autoren: Milada Součková
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bitte euch, ich sehe ihn (Olivo) jeden Sonntag auf dem Corso, vor dem Weltkrieg und nach dem Weltkrieg. War er denn überhaupt anderswo als dort? Corigli übertreibt, Corigli kennt nur die Karten, hält die Wochentage nur nach den an diesen Tagen gespielten Partien auseinander. Am Dienstag spielt er zum Beispiel in einer Runde mit Matteo. Als ein bekannter symbolistischer Dichter gestorben war und man im Klub darüber sprach, hat der ungeduldige Corigli, der schon mit dem Spiel beginnen wollte, gesagt:»Mein Gott, soviel Geschrei, wenn irgendein Journalist stirbt!«
    Wenn ich, wie Corigli, Ernesto am Sonntagvormittag auf dem Corso treffe, hält er mich gewöhnlich an und verabsäumt fast nie zu fragen: »Was macht Giulia? Schreibt sie?«
    Ich spaziere mit Ernesto über das feuchte Pflaster, die Uferpromenade leert sich und manchmal frage ich mich, ob Ernesto vielleicht Giulia doch nicht nur gern hatte. Freilich weiß ich, fragte ich ihn danach, fragte irgendwer, fragte Giulia danach, Ernesto würde lachen: Er habe doch keine Zeit für solche Dummheiten! Das könne niemand von Ernesto verlangen, er habe andere Sorgen!
    Er wird nicht sagen, welche, nie vertraut und vertraute er sich an, er lässt alles nur ahnen. Aber wer interessiert sich für seine unzugänglich im Gesicht verschlossenen Gedanken, obwohl er sie auf dem Corso zeigt?
    Ein winterlicher Wind peitscht ins Gesicht. Wir gehen eine Weile schweigend am steinernen Kai, der reglos daliegt, derweil der Fluss wild dahinjagt. Die Uferpromenade ist fast verlassen, ich verabschiede mich von Ernesto und mir fällt ein, dass er mich vielleicht angehalten hat, weil er etwas über Giulia erfahren wollte, und so brumme ich, Giulia werde ich, sobald ich ihr schreibe, ausrichten, dass Doktor Olivo sie grüße, obwohl er nichts dergleichen gesagt hatte.
    Ernesto hält mich wahrscheinlich für einen Trottel. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie er noch einmal zurückkehrt, ich sehe jetzt seinen Rücken (zu Beginn des Weltkrieges trug er ein Käppchen, danach nicht mehr), ich weiß mit Sicherheit, Ernesto blickt jetzt ungestört auf zumHorizont, sieht die »Alpengipfel«, die Hannibal überschritten hat, Napoleon. Sieht die aus jeder europäischen Großstadt sichtbaren »Alpengipfel«.
    Ich weiß, Ernesto wird noch einmal die Uferpromenade überqueren und wie wir alle zum Mittagessen gehen. Aber immer, so oft ich ihn auch essen sah, konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, er esse aus Ehrgeiz, trinke aus Ehrgeiz, wie andere aus Trauer trinken, aus Unglück. Manchmal spürte ich, wenn er lachte, dass er nur aus Ehrgeiz lacht.
    Glaubte ihm Giulia? Als sie achtzehn war, ja. Matteo erzählt, in dieser Zeit habe er sie öfter gesehen, wie sie zusammen gingen: Giulia im weißen Kleid, mit breitkrempigen Hut, dem Hirtenstab, und Ernesto, der ihr seine ehrgeizigen Pläne erläuterte.
    Als ich später mit Giulia darüber häufig sprach, hing ihre Meinung über Ernesto davon ab, ob sie in zärtlicher Erinnerung oder mit einem bösartigen Vorwurf an ihn zurückdachte.
    Manchmal behauptete sie, Ernesto hätte es zu einer hohen Position bringen können, wären da nicht sein unnachgiebiger Charakter, seine Ansichten: Sie wies auf die Großzügigkeit hin, mit der er sein gesamtes Vermögen seiner Schwester und seinen Ideen geopfert habe. Sie zählte alles auf, was Ernesto haben könnte, wäre er mit dem zufrieden gewesen, was ihm angeboten wurde. Sie gab zu verstehen, es hätte eigentlich nur an ihr gelegen, und Ernesto hätte ein anderes Los gehabt: wenn sie seinen späteren Heiratsantrag angenommen hätte.
    Ist es überhaupt dazu gekommen?
    Kennen Sie Olivo nicht!? Der wird nichts direkt sagen.
    Hätte sie damals in Wien seinen Heiratsantrag angenommen, hätte sie ihn als seine Frau genötigt, die ihm damals angebotene Stellung anzunehmen, genauer gesagt, dass er nicht leichtsinnig wegen einer anderen, höheren, ihm von seinen Feinden nicht gegönnten Stellung auf sie verzichtet. Giulia hätte ihn gelenkt, hätte ihn beraten, jeder Mann braucht neben sich eine Frau, Giulia hätte nicht zugelassen, eine hohe Stellung nur deswegen abzulehnen, weil sie nicht hoch genug schien. Giulia hätte wohltuenden Einfluss auf ihn gehabt.
    Aber ach, hätte ich vor ihr erwähnt, Ernesto habe gesagt, Giulia solle dies oder jenes tun, habe gesagt, ihr Leben könne anders aussehen, wenn Giulia diese oder jene Eigenschaften nicht hätte! Giulia würde vor Wut aufbrausen, die Augen würden funkeln und
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