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Bel Canto (German Edition)

Bel Canto (German Edition)

Titel: Bel Canto (German Edition)
Autoren: Milada Součková
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Herr und Frau Wohlrab, in der zum Fotografieren günstigen Frühjahrssonne. Was behandelt man hier? Gicht, Ischias, Frauenkrankheiten, Nervenleiden, Rheumatismus, Magenbeschwerden, Rekonvaleszenten.
    Das alles fehlt den Damen im Wartezimmer Doktor Wohlrabs? Mehr oder weniger. Wir hoffen jedoch weniger.Sie alle halten sich im Bad auf. Sie sind in einem Alter, in dem man manche dieser Krankheiten haben kann; sitzen im Wartezimmer Doktor Wohlrabs und betrachten die schwarze, unscharfe Abbildung der Kolonnade, die die Eisenlithiumquelle umgibt. Lithium, Zeichen Li, Atomgewicht 6,941. Entdeckt von Arfvedson im Jahre 1817. Kommt in der Natur in zahlreichen Mineralen vor. Besonders in Triphyllin, Amblygonith, Petalit, in Rosenglimmer oder Lepidolit.
    Geringe Lithiumspuren finden sich im Boden, aus dem es in die Pflanzen gelangt: in Kaffee, Tee, Tabak. Lithium ist ein silberweißes Metall, von allen festen Elementen spezifisch das leichteste, Dichte: 0,594, spezifische Wärme: 0,9408, der Schmelzpunkt liegt bei 180 Grad. Beim Erwärmen über 200 Grad leuchtet Lithium mit intensiv weißem Licht. Die flüchtige Lithiumverbindung färbt die Flamme karminrot. Im Lithiumspektrum erscheint eine typische glänzend rote Linie mit einer Wellenlänge von 670,8 μμ.
    Eine Fingerspitze unterbricht das Rieseln der Eisenlithiumquelle und die Augen von Doktor Wohlrabs Patientinnen bleiben am Bild einer Frau haften, deren Antlitz ein dichter Schleier verhüllt, rote Lippen leuchten auf, das Oval des Gesichts, schwarze lockige Haare; die halbverhüllten Brüste heben den exotischen Stoff ein wenig – bestimmt riecht er nach Äther und starkem Tabakrauch.
    Wie kommt es, dass Frau Wohlrab nicht eifersüchtig ist? Doktor Wohlrab war immerhin in der Türkei, als er seine jetzige Frau noch gar nicht kannte. Das alles weiß jede Dame, die in das Bad kommt, das meiste gleich am ersten Abend. Man erzählt sich, Frau Gutwirt komme nur wegen Doktor Wohlrab. Und sie ist doch durchaus eine ehrbare Frau; das nur als Beweis, wie Doktor Wohlrab auf Frauen wirkt.
    Auf wen müsste seine Frau eifersüchtig sein?! Auf wie viel Damen, auf wie viel verheiratete Frauen, denen die Ehemänner nachreisen, auf wie viele alte Jungfern?! Frau Wohlrab hat andere Sorgen: die Küche, die Wäsche, überall Ordnung zu halten ist keine Kleinigkeit. Frau Wohlrab hört geduldig dem Tratsch zu, an der Stirnseite der Tafel trägt sie stolz ihre kastanienbraune Haarkrone, reckt stolz ihren Busen, den bei kaltem Wetter dunkle, bei warmem helle Spitze überspannt. (Während der Kur nehmen wir das Wetter besonders aufmerksam wahr!)
    Ins Bad fahren übrigens nicht nur Frauen ohne ihre Ehemänner, sondern auch ledige Frauen, Witwen, Frauen, die ihrer Männer überdrüssig sind. Frau Wohlrab, kräftig, großgewachsen, beobachtet ihre Gäste mit Geduld. Man erzählt, der hiesige Forstadjunkt, der sich im Hotel verköstigt und mit den Wohlrabs, wie zur Familie gehörig am Tisch sitzt, komme ihretwegen. Er versorgt die Hotelküche mit Wild und im Herbst geht er mit den Gästen auf die Jagd. Jemand sagt auch, Militärrichter Kunc interessiere sich für Frau Wohlrab.
    Frau Wohlrab verachtet Tratsch, hat für solche Dummheiten keine Zeit. Was sie nicht selbst bemerkt, wird das Zimmermädchen ihr erzählen. Sie kennt das Geräusch jeder Tür, hört, wann welche klappt. Sie beobachtet geduldig ihre Gäste, empfängt geduldig von ihnen bei verschiedenen Gelegenheiten, zum Beispiel am Tag der heiligen Anna, riesige, üppige Blumensträuße, mit denen sie dann den Speiseraum schmückt; am Abend revanchiert sie sich mit Erdbeerbowle. Herr Oberrat Dvořák bringt den Trinkspruch aus.
    Heute sitzen neue Kurgäste hier: Frau Sedlák, geborene Herold, mit ihrer zwanzig Jahre jüngeren SchwesterJulia, der achtzehnjährigen Julinka. Niemand glaubt, dass sie achtzehn ist. Die Damen führen Vergleichsdaten aus der Verwandtschaft, der Schule, der Tanzstunde an, die beweisen sollen, Julinka sei mindestens zwanzig. Auch sind die Damen geneigt zu bezweifeln, Julinka zeige wirklich ihr Alter: Achtzehn Jahre? Bei ihrer Reife?
    Bei ihrer Reife? Was heißt das?
    Das heißt vor allem, Julinka ist eine ausgesprochene Schönheit: hoher Wuchs, auffallend blonde Haare, deren Farbe und sogar Locken völlig natürlich sind, auffallend blaue Augen mit naturdunklen Brauen und Wimpern. Was bedeutet so viel natürliche Schönheit?
    Frau Gutwirt zweifelt nicht an der natürlichen Haarfarbe, der natürlichen Farbe der
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