Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 1) (German Edition)

Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 1) (German Edition)

Titel: Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 1) (German Edition)
Autoren: Inka Loreen Minden
Vom Netzwerk:
den Kopf. Der Blick ihrer trüben Augen glitt tadelnd über seinen Körper. Er musste schrecklich unordentlich aussehen; sogar sein Hemd stand noch offen.
    »Wo kommst du her?« Sie strich eine Falte an ihrer Schürze glatt, die sie über ihrem einfachen Kleid trug, und hob die Brauen.
    »Ich musste für mein Buch recherchieren«, sagte er, ohne rot zu werden. Bei Granny bediente er sich des Öfteren einer Notlüge, um sie nicht aufzuregen.
    »Hm …« Sie deutete auf seine nackte Brust. »Bist du bei einer Frau gewesen?«
    »Was?« Jetzt wurde ihm doch heiß, von der Kopfhaut bis zu den Zehenspitzen.
    Granny lächelte, wobei sie eine Zahnlücke offenbarte, und schlurfte zurück in die Küche.
    David wusste, wie sehr sie sich wünschte, er möge eine Frau finden und heiraten. Daran hatte er bisher nie einen Gedanken verschwendet. Er wollte nicht allein sein, aber was sollte er mit einer Ehefrau? Um die musste er sich kümmern. Mit ihr müsste er Liebe machen, was zur Folge hatte, dass es mit der Ruhe aus und vorbei war, sobald Kinder kamen.
    Für solche Dinge hatte er keine Zeit, we nn er an seinen Büchern schrieb. So wie jetzt sollte es seiner Meinung nach immer sein: Granny versorgte ihn und störte ihn nicht weiter. Im Gegenzug verdiente er gut und konnte ihr kaufen, was ihr Herz begehrte. Sogar ihr eigenes Badezimmer unter dem Dach hatte sie bekommen und einen Aufzug hatte er vor zwei Jahren einbauen lassen, damit sie nicht die Treppen bis nach oben laufen musste. Dazu hatte er sich Pläne von den Gebrüdern Otis – deren Vater der berühmte Erfinder des absturzsicheren Personenaufzugs war – aus Amerika schicken lassen.
    David war zufrieden und glücklich, wie alles war. Und jetzt hatte er noch seinen Retter gefunden.

***

    Das Wetter und das Warten machten ihn müde. Die Aufregung fraß ihn innerlich auf. Der Tag hatte mit einem herrlichen Sonnenaufgang begonnen, doch jetzt schoben sich dicke graue Wolken über den Himmel und es sah nach Regen aus. David hatte in den Hyde Park gehen wollen, um sich abzulenken und die Menschen zu studieren. Das machte er oft und gerne. Sie lieferten ihm neue Ideen für seine Geschichten. Aber er verspürte nicht den Wunsch, durchnässt zu werden. Die schwüle Luft machte ihm zusätzlich zu schaffen. Daher saß er auf der breiten Fensterbank seines Zimmers und starrte nach unten auf die Straße. In der Hand hielt er ein in rotes Leder gebundenes Buch. Vaters Notizen über die Gargoyles. David hatte sich gut an das Notizbuch erinnern können, denn es sah genauso aus wie das, in d em die Pläne über den Kühlschrank gestanden hatten.
    Am Vormittag war er in den Keller gegangen, in Vaters ehemaliges Labor. Dort befand sich noch alles an seinem alten Platz. Er und Granny hatten es seit dem Tod seiner Eltern selten betreten. Dicke Spinnweben und Staub lagen übe r Notizen, Reag enzgläsern und seltsamen Apparaturen, die Vater gebaut hatte. Das Buch hatte auf seinem Schreibtisch gelegen. Als David den Staub vom Umschlag gepustet und es aufgeschlagen hatte, war seine Euphorie verflogen. Er konnte kein Wort von dem verstehen, was in dem Buch geschrieben stand. Vater hatte d ie Aufzeichnungen versch lüsselt und David kannte den Code nicht. Vater hatte auch Skizzen hinzugefügt, von Drachen und hübschen Frauen, und detaillierte Zeichnungen von der Anatomie der Gargoyles.
    David starrte auf das Bild einer ausgefahrenen Kralle. Vielleicht halfen die Skizzen ihm, sich zu erinnern. Wobei Vater ihm sicher nicht alle Geheimnisse über die Gargoyles anvertraut hatte. Was hatte er herausgefunden, dass er seine Notizen verschlüsselte? Es musste von enormer Bedeutung sein.
    Seufzend legte er das Buch zur Seite. Er sollte ein paar Stunden schlafen, um die Zeit zu überbrücken. Schlafen war, als würde man eine Zeitreise machen. Abends würde er zurück zur Kirche zu gehen, um den Gargoyle zu begrüßen. Jetzt war es Nachmittag, er hatte eben mit Granny Tee getrunken und fühlte sich ohnehin müde.
    Nein, er sollte lieber nicht einschlafen, er könnte den Sonnenuntergang verpassen. Spätestens um acht Uhr musste er aufbrechen, wenn er pünktlich bei der Kirche sein wollte.
    Daher zog sich David nicht aus, sondern legte sich auf die Bettdecke. Er wollte nur ein wenig dösen und seine n Gedanken nachhängen. Vielleicht fiel ihm das eine oder andere über die Gargoyles wieder ein.

***

    »Wie spät ist es, Granny?« David richtete sich so abrupt auf, dass ihm kurz schwindlig wurde. Es war fast
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher