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Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 1) (German Edition)

Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 1) (German Edition)

Titel: Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 1) (German Edition)
Autoren: Inka Loreen Minden
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abzuwischen. Der Sommer war ungewöhnlich heiß, in seinem Zimmer kühlte es kaum ab. Vielleicht sollte er ein Bad nehmen und danach an seinem Buch weiterschreiben. Schlaf würde er keinen mehr finden.
    Zitternd tastete er nach der Kerze auf dem Nachttisch und fluchte leise, weil er die Zündhölzer nicht fand. Wann wurde endlich eine brauchbare Glühlampe erfunden, die eine längere Brenndauer besaß? David würde sofort im ganzen Haus elektrisches Licht anschaffen – die Vorrichtungen dazu hatte er bereits angebracht –, um die Geister der Vergangenheit auf Knopfdruck verscheuchen zu können.
    »Luceo«, wisperte er und schnippte mit d en Fingern.
    Nichts geschah. Er war zu nervös zum Zaubern. Außerdem wandte er zu selten Magie an und war deshalb nicht in Übung. Seine Mutter war keine reinrassige Hexe. Sie kam aus einer Familie, in der ihr Zaubern strengstens untersagt worden war, obwohl ihre Fähigkeiten kaum vorhanden waren. Daher war auch Davids Begabung nicht stark ausgeprägt. Es war ohnehin besser, er hielt sich bedeckt.
    Ganz anders Granny. Sie hatte bis vorletztes Jahr regelmäßig Magie angewandt. Als vor zwei Jahren ihre Hexenküche – wie David ihren persönlichen Bereich liebevoll nannte – beinahe in Flammen aufgegangen wäre, hatte sie große Zauber weitgehend bleiben lassen.
    »Luceo«, flüsterte er erneut und schnippte. Ein winziger Funke blitzte auf – sonst geschah nichts.
    Keine Panik , sagte er sich und schwang die Füße über die Matratze. Er kannte den Weg zum Fenster, er brauchte nur drei Schritte. Doch er bildete sich ein, er könne jeden Moment gegen einen Dämon stoßen. Seinen Dämon.
    Angestrengt lauschte er in die Dunkelheit. Atmete außer ihm selbst nicht noch jemand?
    Du hast eine blühende Fantasie, Junge , vernahm er Grannys Stimme in seinem Kopf, fasste all seinen Mut zusammen und eilte zum hohen Fenster, um die schweren Vorhänge aufzuziehen. Sofort drang das matte Licht der Gaslaternen in sein Schlafzimmer. Auf der Straße, zwei Stockwerke tiefer, wa r es still, keine Kutsche, kein Automobil waren zu sehen. Es musste nach Mitternacht sein. Erst dann kam London langsam zur Ruhe. Bereits morgens um vier erwachte es wieder zum Leben. Je mehr d ie Industrialisierung und der Fortschritt vorankamen, desto mehr wurde die Nacht zum Tag. Wenn sich endlich Glühlampen durchsetzten, würde London überhaupt nicht mehr schlafen. Was David nur recht war. Schlaf bedeutete für ihn Albträume, Kummer, böse Erinnerungen.
    Als er ein Knarzen aus dem Flur vernahm, wirbelte er herum. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
    »Granny?«, wollte er rufen, doch lediglich ein Krächzen verließ seinen Mund.
    Rasch zog er seine Hose vom Stuhl, der vor seinem Sekretär stand, und stieg hinein. Großmutter schimpfte ihn für seine Unordnung, weil er von seinem Schreibtisch lediglich in sein Bett fiel und sich vom Bett meist direkt zurück zum Tisch begab. Würde Granny ihm nicht Essen ins Zimmer bringen, wäre er wohl dünn wie eine Bohnenstange.
    Fahrig schlüpfte er in sein Hemd, ohne es zuzuknöpfen. Falls sich ein Einbrecher in ihrem Haus herumtrieb, wollte er ihm nicht nackt begegnen. Dann suchte er nach einer Waffe und entschied sich für einen der zahlreichen Kerzenhalter aus Bronze, die auf seinem Sekretär verteilt waren. David zog die abgebrannte Kerze heraus, bevor sich seine Finger um das kühle Metall schlossen.
    Wahrscheinlich war der nächtliche Besucher längst über alle Berge.
    Hoffentlich …
    Mit angehaltenem Atem schlich er zur Tür. Sie stand einen Spaltbreit offen. David hatte sie geschlossen, bevor er zu Bett gegangen war. Ob Granny doch bei ihm gewesen war?
    Bereits als Junge hatte er sich eingebildet, ein Ungeheuer würde durchs Haus schleichen. Er hatte ihm eine F alle stellen wollen, allerdings hatte Großmutter den Eimer Wasser, den er auf Tür und Rahmen positionierte, abbekommen, als sie nach ihm gesehen hatte. Sie hatte ihm gedroht, ihn in einen Gnom zu verwandeln, wenn er nicht sofort aufhörte, über »sein Ungeheuer« zu reden. Heute wusste D avid, dass sie mit der Situation überfordert gewesen war. Granny hatte den Tod ihres Sohnes nie verkraftet, zumal bis heute unklar war, wer die Mörder seiner Eltern waren. Die Polizei hatte die Leichen nie gefunden. Lange Zeit hatte David Angst gehabt, dass der Mann, der brennend davongelaufen war, noch lebte und zu ihnen zurückkehrte, um sie zu töten.
    Sein furchteinflößender Retter – war er wirklich ein geflügeltes
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