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Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages
Autoren: Sveva Casati Modignani
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zuerst klein bei. »Bin ich entlassen?«, flüsterte sie. Sie war eine Kalabresin, die einiges einstecken konnte, aber auch wusste, was es hieß, arbeitslos zu sein.
    Léonie schwieg.
    Â»Es tut mir leid. Ich wollte Signor Picchi nicht verletzen«, entschuldigte sich da Signorina Rovani.
    Léonie schwieg immer noch, während die beiden regungslos vor ihr standen.
    Als die beiden jungen Frauen kurz davor waren, in Tränen auszubrechen, sagte Léonie: »Es ist wirklich schade, dass zwei so tüchtige schöne junge Frauen so wenig Selbstvertrauen haben, dass sie handgreiflich werden und sich in zwei Furien verwandeln müssen. Hat Ihnen denn niemand beigebracht, wie wichtig die Solidarität unter Frauen ist? Auch in der Berufswelt können wir besser sein als die Männer, wenn wir uns gegenseitig mehr respektieren würden. Nach dem heutigen Vorfall könnten wir Sie entlassen oder strafversetzen. Ich sehe da allerdings noch eine dritte Möglichkeit: Sie werden weiterhin im selben Büro arbeiten und Ihre Aversionen ablegen. In einem Monat werde ich dann in Bezug auf Ihre Zukunft eine Entscheidung treffen.«
    Léonie sah auf die Uhr. Sie musste nach Hause, um die Kleine zu stillen, und dann in den Ort fahren und die Kinder von der Schule abholen. Also stand sie auf und verließ grußlos das Zimmer.
    Am nächsten Tag hatte sich die Lage wieder beruhigt, und unter den Angestellten sprach sich herum, dass die »Signora« unparteiisch, ja, fast besser als der Chef sei.
    Die Nase des Buchhalters Picchi schwoll wieder ab, und Cavalier Cantoni bekam nichts von einem Vorfall mit, der ihn nur unnötig beunruhigt hätte.

Varenna

1
    L éonie verließ Villanova bei Schneetreiben. Es hatte am Vor abend begonnen, und die Landschaft war bereits vollkom men weiß.
    Je weiter sie sich dem See näherte, desto schwerer und feuchter wurde der Schnee. In Varenna regnete es, und die Schneeketten ihres Wagens klapperten über den Asphalt.
    Es gelang ihr, ihre Aufregung zu verbergen, während die Hotelbesitzerin sie lächelnd empfing.
    Â»Dottor Bastiani ist noch nicht eingetroffen, aber Ihre Suite ist bereits fertig. Möchten Sie hinaufgehen?«, fragte sie.
    Sie hatte Roger seit zwei Jahren nicht gesehen und gehofft, dass er bereits auf sie wartete.
    Â»Ich warte lieber an der Bar. Würden Sie mir bitte einen heißen Tee bringen?« Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter, setzte sich vor die Panoramascheibe, gegen die der Regen prasselte, und fragte sich, warum er noch nicht da war.
    Sie knöpfte ihre Jacke auf, ohne sie auszuziehen, denn ihr war kalt, und ohne Roger kam ihr der Ort längst nicht so einladend und gemütlich vor. Er war noch nicht da und hatte auch keine Nachricht für sie hinterlassen. Warum?
    Was, wenn er krank war? Sie verwarf diese Möglichkeit gleich wieder, denn er hätte bestimmt einen Weg gefunden, sie zu benachrichtigen. Genau wie sie im Vorjahr, als sie in der Klinik gewesen war, um ihre Tochter zur Welt zu bringen.
    Vielleicht war er tot … Roger war seit einem Jahr tot, und sie hatte nichts mitbekommen. Während sie sich sein tragisches Ende ausmalte, war ihre Kehle wie zugeschnürt. Sie merkte nicht einmal, dass der Kellner Teetasse und Kanne längst gebracht hatte. Ihr Lächeln fand sie erst wieder, als ihr eine Hand sanft übers Haar strich und eine vertraute Stimme leise sagte: »Bonjour, Léonie.«
    Sie schlug die Hände vors Gesicht, und ihr entfuhr ein Schluchzen.
    Roger, der hinter ihr stand, umarmte sie, wobei er sich vorbeugte und murmelte: »Psssst … ich bin ja da, mein Schatz.«
    Â»Lass dich anschauen!«, sagte Léonie.
    Roger ging um den Tisch herum und stand vor ihr.
    Â»Geht es dir gut?«, fragte sie.
    Lächelnd erwiderte er: »Ausgezeichnet. Ich komme aus Venedig und hatte bei Brescia einen Motorschaden. Ich musste den Wagen in einer Werkstatt stehen lassen und hatte noch Glück, weil ich gleich ein Ersatzfahrzeug mit Chauffeur bekommen habe. Ich hatte eigentlich gehofft, wie immer vor dir hier zu sein, aber bei diesem Schneetreiben ist die Situation auf den Straßen katastrophal. Ich habe mich furchtbar verspätet. Verzeih mir, bitte!«
    Â»Ich bin froh, dass du da bist.«
    Â»Trink deinen Tee, bevor er kalt wird.«
    Er schenkte ihr ein, half ihr aus der Jacke und nahm schließlich gegenüber von ihr Platz, wobei er sie genau
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