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Beherrscher der Zeit

Beherrscher der Zeit

Titel: Beherrscher der Zeit
Autoren: A. E. van Vogt
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Stimme klang plötzlich so rauh, so schwach und fremd in ihren Ohren, daß neue Angst wie Schmetterlinge in ihrem Magen flatterte. In ein paar Minuten würde ihre Stimme so kraftlos sein, daß sie kaum noch flüstern, ja vielleicht überhaupt keinen Laut mehr hervorbringen konnte.
    Eine Sklavin der Maschine, hatte Dr. Lell gesagt.
    Sie wußte plötzlich, mit klarer, brennender Logik, daß es jetzt geschehen mußte, wenn sie jemals die Fesseln abstreifen konnte. Sie mußte in dieses Gebäude gelangen. Sie mußte mit jemandem sprechen, der etwas zu sagen hatte, und mußte ihm berichten – mußte – mußte – mußte ...
    Irgendwie glückte es ihr, Kraft in ihr Gehirn und Mut in ihr Herz zu dirigieren. Sie zwang ihre Beine, sie in die Eingangshalle des großen, modernen Gebäudes mit seinen Marmorfliesen und den breiten Korridoren zu tragen. Doch als sie es betreten hatte, wurde ihr klar, daß sie die Grenzen ihrer körperlichen und seelischen Leistungskraft erreicht hatte.
    Sie stand auf dem glänzenden Steinboden und fühlte, wie ihr ganzer Körper zitterte, allein von der ungeheuerlichen Anstrengung, die es sie kostete, sich aufrecht zu halten. Ihre Knie waren weich und kalt wie zu Eis erstarrendes Wasser. Sie spürte, daß der große Polizist mit der tiefen Stimme hinter ihr stehengeblieben war.
    »Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein, Mütterchen?« erkundigte er sich mit warmer Herzlichkeit.
    »Mütterchen!« echote sie mit einem merkwürdigen Gefühl der Unwirklichkeit. Ihre Gedanken eilten dem Wort hinterher. Hatte der Polizist das wirklich gesagt, oder hatte sie es nur geträumt? Aber sie war doch keine Mutter – und ein Mütterchen schon gar nicht! Sie war ja nicht einmal verheiratet!
    Sie schob diese Gedanken von sich. Sie mußte sich zusammennehmen, oder sie würde den Verstand verlieren. Sie hatte keine Chance mehr, zu einem höheren Beamten zu kommen. Also blieb ihr nichts übrig, als sich diesem großen, hilfsbereiten Polizisten anzuvertrauen und zu hoffen, daß er etwas zu unternehmen imstande war, die schreckliche Kraft, die über Kilometer hinweg auf sie einschlug, zu neutralisieren – diese unvorstellbar grauenvolle Macht, deren Zweck sie sich nicht einmal in ihren Träumen vorstellen könnte.
    Sie öffnete die Lippen, um zu sprechen – da fiel ihr Blick in den Spiegel.
    Sie sah eine dünne, hochgewachsene alte, sehr alte Frau neben dem breitschultrigen Polizisten mit dem gesunden roten Gesicht. Ihr Blickwinkel schien ausgesprochen ungewöhnlich zu sein, so sehr, daß es sie faszinierte. Irgendwie gab der Spiegel ihr eigenes Bild nicht wieder, sondern warf statt dessen das einer Greisin zurück, die dicht hinter und ein wenig seitlich von ihr stehen mußte.
    Sie setzte an, ihre rotbehandschuhten Finger zu dem Polizisten zu heben, um ihn auf diese Merkwürdigkeit aufmerksam zu machen. Gleichzeitig griffen auch die rotbehandschuhten Finger der alten Frau im Spiegel nach dem Polizisten. Ihre eigene, halberhobene Hand erstarrte. Das gleiche geschah mit der Spiegelhand der Greisin.
    Verwirrt nahm sie ihren Blick vom Spiegel und starrte ungläubig auf ihre steif in die Luft ragende Hand. Ein kleines Stück ihres Handgelenks war zwischen dem Handschuh und dem Ärmel ihres Wollkostüms zu erkennen.
    Nein, ihre Haut war doch nicht wirklich so dunkel!
    Da geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Ein hochgewachsener, hagerer Mann trat elastischen Schritts durch die Tür – Dr. Lell –, und die Hand des breitschultrigen Polizisten berührte leicht ihre Schulter.
    »Wirklich, Mütterchen, in Ihrem Alter sollten Sie sich nicht persönlich hierher bemühen. Ein Anruf würde genügen.«
    Und Dr. Lell sagte: »Meine arme, alte Großmutter.«
    Die beiden Stimmen redeten weiter, aber ihr Gehirn nahm sie nur als unverständliche Laute auf, als sie verzweifelt einen der Handschuhe abzog und eine runzlige, kraftlose Greisinnenhand zum Vorschein kam. Eine tiefe Schwärze, mit peinigenden Lichtsplittern durchzogen, griff gnädig nach ihr. Ihr letzter Gedanke war, daß es geschehen sein mußte, während sie gerade auf den Bürgersteig trat – als der Fremde sie mit herausquellenden Augen angestarrt und sich wohl selbst für verrückt gehalten hatte. Ja, er mußte Zeuge ihrer Verwandlung gewesen sein.
    Der Schmerz schwand. Die Schwärze wurde zu Grau, dann zu Weiß. Sie war sich der Motorengeräusche bewußt und einer Vorwärtsbewegung. Sie öffnete die Augen – und die schreckliche Erinnerung kam zurück. Sie
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