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0941 - Das unheile London

0941 - Das unheile London

Titel: 0941 - Das unheile London
Autoren: Adrian Doyle
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1.
    London, 1349
    Wie kalt sie war, wie kalt. Und dann der Regen, er wusch Nebel und Rauch gleichermaßen aus der Luft, drang aber auch in jede Ritze.
    Wann hatte es zuletzt so geschüttet?
    Marvin Shipley bekam kaum noch Luft. Es war, als hätte ihm jemand buchstäblich den Hals umgedreht, einen Knoten hinein gemacht. Die Dunkelheit breitete sich gnädig über ihn und Paula, vor allem über Paula. Er keuchte. Immer wenn er versuchte, Atem zu schöpfen, spürte er einen Schmerz, als weide jemand mit scharfer Klinge seinen Brustkorb aus.
    In seinen Augen standen Tränen, weniger vor Trauer als vor Schmerz. Trotzdem: Paula war kalt, furchtbar kalt, sie musste schon vor Stunden gestorben sein - als Shipley offenbar für eine Weile in dumpfer Bewusstlosigkeit versunken gewesen war.
    Irgendwo ganz nah stöhnte jemand gequält. Shipley war vollkommen egal, um wen es sich handelte. Die Verstoßenen hatten - ebenso wie er selbst und Paula - kein festes Obdach und mussten Tag für Tag neu sehen, wo sie unterkamen, sich verkriechen konnten. Niemand kümmerte sich um sie. Die Angst zerstörte alle Bindungen. Wer noch gesund war, mied oder verstieß die Befallenen. Familiäre Bande hatten keine Bedeutung mehr, vormals freundschaftliche schon gar nicht. Die Angst… die Angst beherrschte das Denken eines jeden. Und dieses Denken kreiste fortan nur noch um die Frage: Wird es mich verschonen? Werde ich davonkommen?
    Marvin Shipley musste zugeben, dass er selbst ein solch Getriebener gewesen war. Und wenn die Seuche eines geschafft hatte, nachdem er sie an sich selbst hatte feststellen müssen - und an Paula; immer wieder Paula, so zart, so kalt, so still -, dann, dass er endlich zur Ruhe gekommen war. Wie nach einem kräftezehrenden Lauf, bei dem man glaubte, einer Gefahr davonlaufen zu können… aber dann doch von ihr eingeholt wurde. Man hetzte und hetzte und war am Ende fast dankbar, dass man nicht mehr weiter fliehen musste. Weil schon der Versuch , dem Schwarzen Tod zu entrinnen, so vieles um einen herum und in einem selbst abtötete.
    Die einzige Bindung, die nie gelitten hatte, war die zu Paula. Dabei hatte sie ihn angesteckt. Bei ihr waren die Beulen zuerst aufgetreten.
    Ohne-Bein-Willis kam um die Ecke gekrochen. Shipley kannte das Geräusch, mit dem er über das Pflaster rutschte, auch wenn die Dunkelheit nicht einmal Umrisse erkennen ließ. Außerdem kannte er den Geruch, der den Amputierten wie eine Wolke begleitete. Es gab Gerüchte, wonach Willis noch nie mit Seife in Berührung gekommen war. Und das einzige Wasser, dem er nicht ausweichen konnte, war das, das er trank oder das vom Himmel herunter fiel. Aber gerade wenn es regnete, stank er wie ein läufiger Straßenköter.
    »Marv?«, krächzte er. »Biste daheim? Gib Antwort, blöder Hund!«
    »Daheim« war eine mutige Umschreibung für das Treppenloch, in dem sich Shipley vor ein paar Tagen mit Paula eingenistet hatten. Da waren sie beide noch nicht am Verfaulen gewesen.
    Es war so verdammt schnell gegangen. Zuerst Fieber, dann Husten, und schon in der Nacht darauf hatten sich die ersten Knoten unter Paulas Haut gebildet gehabt. Da sie immer ganz eng aneinander schliefen, hatte Marvins Hand sie zufällig ertastet, als er ein bisschen an ihren Brüsten und sonst wo herumspielte.
    Der Schreck war ihm in alle Glieder gefahren. Bis zum Morgen hatte er einfach nur wie erstarrt neben ihr gelegen und sich nicht zu rühren gewagt. Im ersten Frühlicht hatten sie dann beide die Bescherung gesehen, und Paula hatte ihn gedrängt, von ihr wegzugehen, sich aus dem Staub zu machen, am besten die Stadt zu verlassen, wie sie es zuvor schon ein paar Mal gemeinsam in Erwägung gezogen hatten.
    Aber da hatte er schon beschlossen, es bis zum bitteren Ende mit ihr durchzustehen. Was sollte er ohne sie? Er wollte dort sein, wo sie war. Und wenn das der Himmel - oder die Hölle, denn sie hatten beide einiges auf dem Kerbholz - war, dann wollte er auch dorthin!
    »Ich bin hier, Arschloch. Aber hier ist kein Platz für drei. Such dir ein anderes Loch zum Unterkriechen!«
    »Ich brauch nicht viel Platz, weißte doch. Und deiner Paula tu ich auch nichts, nur keine Sorge. Den da unten hätten sie mir auch gleich mit abschneiden können. Der taugt zu nichts mehr. Also, ihr zwei Turteltäubchen. Lasst mich rein. Bin klatschnass und völlig durchfroren. Werd mir hier den Tod holen!«
    » Paula ist tot.«
    »Was?«
    »Muss heut Nacht verreckt sein. Hab's eben erst gemerkt.«
    Irgendetwas fiel
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