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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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fast ausschließlich in ihrer eigenen Welt. Du hast vielleicht bei Johannes davon gelesen. Sie zog sich die merkwürdigsten Sachen an, lief durch das Dorf, brabbelte ständig vor sich hin und beleidigte die Leute. Manchmal mussten wir stundenlang nach ihr suchen. Kurz vor Friedrichs Tod haben wir uns dann entschlossen, sie in eine psychiatrische Klinik zu geben. Das alles wusste Friedrich, trotzdem beneidete er uns! Ich muss schafsmäßig dumm geguckt haben, denn Friedrich klopfte mir lachend auf die Schulter. ›Ich meine das wirklich ernst, ihr habt es gut hingekriegt‹, hat er dann gemeint. ›Ihr Vater und Sie, Richard, Sie haben ein so gutes Verhältnis zueinander. Ich bin als Vater ein Versager gewesen. Vielleicht sollte ich nicht davon sprechen, aber ich habe Ihren Vater kurz nach seiner Heimkehr einmal gefragt, wie er es fertig brächte, Sie, der Sie doch gar nicht sein leiblicher Sohn sind, so vorbehaltlos zu lieben. Wissen Sie, was er geantwortet hat?‹ Ich war sehr gespannt in diesem Moment, denn mein Vater und ich hatten bis dahin nie richtig darüber geredet. Ich habe seine Zuneigung immer als selbstverständlich empfunden. Sie war einfach da. Friedrich erzählte mir, dass mein Vater auf seine Frage geantwortet habe, dass er in mir einen Fingerzeig Gottes sehe. Mein Vater war in der Gefangenschaft sehr fromm geworden, eine Sache, die mich damals eher belustigte. Friedrich hatte daraufhin gemeint, dann sei ich ja so etwas wie eine göttliche Strafe für Vaters Verblendung und seinen Rassenwahn. ›Wenn Sie so wollen, ja, Herr Direktor‹, hatte mein Vater daraufhin gesagt. Friedrich hatte damals zurückgefragt: ›Aber das erklärt doch nicht, warum Sie so an Ihrem Sohn hängen, Herr Caspar, im Gegenteil.‹ Da sagte mein Vater nach kurzem Nachdenken: ›Es ist wohl so, dass ich dieses Kind einfach sehr liebe, und ich kann Ihnen nicht sagen, warum.‹ Und das ist es wohl, das Wesen der Liebe«, hat Richard hinzugefügt. »Das hat mich später befreit von meinem Selbsthass.«
    »Wann ist dir eigentlich bewusst geworden, dass du nicht Caspars leibliches Kind bist, dass du anders aussiehst, dass du, nun ja, dass du das Produkt einer Vergewaltigung bist?« Diese Frage lag ihr auf der Seele, seit sie es wusste. Und wenn er selber davon anfing, konnte sie es wagen, diese Frage zu stellen.
    Es hat ihm wohl auch nichts ausgemacht, darüber zu reden, denn er behielt den leichten und heiteren Ton, der so typisch für ihn ist, bei.
    »Die Erkenntnis ist nicht jäh und plötzlich gekommen. Ganz allmählich ist mir bewusst geworden, dass ich eine andere Hautfarbe als die Kinder meiner Umgebung habe. Es hat mich aber nie einer gehänselt, das kann ich mit Gewissheit sagen, und die Leute in Grunbach waren immer sehr freundlich zu mir. Aber irgendwann begann ich zu fragen, bekam erste, zögernde Antworten. Dass mit meiner Mutter etwas nicht stimmte, wurde mir auch nach und nach klar. Aus diesen Mosaiksteinen formte sich langsam ein Bild, aber ich kann nicht sagen, dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt sehr schockiert gewesen bin. Erst ganz langsam drang in mein Bewusstsein vor, was das alles bedeutete. Das Paradoxe war, dass mich mehr als alles andere die Erkenntnis entsetzte, dass mein geliebter Vater ein fanatischer Nazi gewesen ist, und nicht, dass mein biologischer Vater ein Vergewaltiger war. Verrückt, nicht wahr? Und dann kamen die Fragen und die Zweifel – wer bin ich eigentlich, zu wem gehöre ich? Es gab eine Phase in meinem Leben, da habe ich mich für die Kultur Marokkos interessiert, war sozusagen auf der Spur meines leiblichen Vaters, den ich nie kennenlernen würde und das letztlich auch nicht wollte. Es ist schlimm für einen jungen Menschen, der auf der Suche nach seiner eigenen Identität ist, einen Teil von sich gar nicht zu kennen, ja sogar einen Teil von sich hassen zu müssen, denn in mir war etwas von diesem Vater, der meine Mutter vergewaltigt hatte. Es gab schlimme Kapitel in meinem Leben, Abschnitte der Selbstzerstörung, der Rebellion – Friedrich hat das gar nicht mehr miterlebt. Zeitweise wollte ich alles wegwerfen, wollte abhauen, ich schmiedete die verrücktesten Pläne. Gott sei Dank habe ich dann Christine kennengelernt, und die Tatsache, dass es einen Menschen gab, der mich so vorbehaltlos liebte, hat mich sozusagen geheilt.«
    Daran muss Anna jetzt denken, als sie mit den anderen zusammen in Gretls Wohnzimmer sitzt. Christine hat die Fenster weit geöffnet, um durchzulüften, und die
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