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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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sich unter den Baum und Friedrich versucht mit ein paar herumliegenden dürren Ästen ein kleines Feuerchen zu entfachen. Sie kauern sich drum herum, um sich vor dem beißenden Wind und den hämischen Blicken zu schützen.
    Die Menge, die sich um sie schart, wird größer, aber es regt sich keine Hand, um den Weckerlins zu helfen, kein Mund öffnet sich, um zu sagen: »Ihr könnt mit zu mir kommen.« Immer tiefer ducken sich Friedrich und die Mutter um das kümmerliche Feuer, nur die kleine Emma liegt selig schlummernd in einer Schublade, die die Mutter noch herausgerissen hat, um die darin liegende Wäsche zu retten. Nach einer Weile traut sich Friedrich verstohlen den Blick zu heben. Wo ist denn der Wachtmeister? Irgendetwas muss doch jetzt geschehen.
    Boshafte, wölfische Blicke begegnen seinem, aber plötzlich fällt ihm einer aus der Menge auf, der ihm direkt gegenübersteht und ihn unverwandt anstarrt. Dieser Blick gehört einem Jungen, den er flüchtig aus der Schule kennt. Er muss so alt sein wie er selbst, denn er geht in dieselbe Klasse, sitzt aber ganz vorne, in den ersten Bänken, wo die Dummen sitzen und die Armen. Er kommt aus der Stadtmühle, dem verrufensten Haus im Dorf, dem letzten Quartier für die Verlorenen, mit denen niemand etwas zu tun haben will. Unentwegt starrt er Friedrich an, mit merkwürdig hellen Augen, die sich förmlich an Friedrich festsaugen. Plötzlich dreht sich der Junge um und rennt los und Friedrich ist fast erleichtert, diesem drängenden Blick entkommen zu sein. Aber nur wenige Minuten vergehen, dann kommt der seltsame Junge zurück. Er hat eine graue Decke unter den Arm geklemmt und zögernd, ganz langsam, nähert er sich den Weckerlins. Dann geht alles ganz schnell. Auf einmal spürt Friedrich, wie ihm diese Decke über die Schultern gelegt wird. Es ist eine schnelle, abrupte und dennoch fast zärtliche Geste. Die Decke ist alt, sie riecht nach Urin und säuerlichem Schweiß, trotzdem zieht Friedrich sie fest an sich, denn sie wärmt ihn und er spürt unentwegt den forschenden Blick des Jungen mit den hellen Augen auf sich, einen Blick, der ihn zu durchbohren scheint. Aber er spürt auch, dass in all diesem Elend etwas ganz Besonderes geschehen ist. Ihm ist, als würde ihn dieser Blick nicht mehr loslassen, sein ganzes Leben lang.

1
     
    Anna drückt die Nase fest gegen die Fensterscheibe, immer wieder, bis ein unregelmäßiger kleiner Fettfleck auf der Scheibe zu sehen ist. So hat sie es immer als kleines Mädchen gemacht, bis die Mutter jedes Mal wütend rief: »Anna, was machst du da? Lass den Unfug!« Mamas Stimme! Sie wird sie nie wieder hören. Schnell dreht Anna sich um. Das Wohnzimmer ist in strahlendes Sonnenlicht getaucht. Was für ein Hohn, denkt sie. Die Sonne scheint und Mama liegt begraben unter der dunklen Erde. Wieder spürt sie tief unten in der Kehle das Brennen der Tränen, die sie niederkämpft, den ganzen langen Tag schon. Bloß nicht heulen, denkt sie, nicht heulen, sonst kann ich nicht mehr aufhören. Vielleicht hätte sie doch mitgehen sollen, mit Mamas Freunden, die jetzt in ihrer Lieblingskneipe schräg gegenüber in der Prenzlauer Straße zusammensitzen.
    »Willst du wirklich nicht mitkommen?«, hat Pia, Mamas beste Freundin, immer wieder gefragt. »Es ist nicht gut für dich, alleine rumzuhocken.«
    Aber Anna hat immer wieder entschieden den Kopf geschüttelt.
    »Nee, lass mal. Ich will alleine sein. Das müsst ihr doch verstehen.«
    Sie hat verstanden oder es zumindest vorgegeben. Wahrscheinlich sind Pia und die anderen sogar froh, sich nicht mit einer vor Kummer erstarrten Neunzehnjährigen abgeben zu müssen. Was soll man auch sagen ... So können sie sich langsam einen antrinken, das Entsetzen darüber wegspülen, dass es eine von ihnen getroffen hat, jetzt schon – »ach, der verfluchte Krebs« –, und sie können sentimental werden und alten Erinnerungen nachhängen.
    Es sind schon freundliche Menschen, findet Anna, aber seltsam unbehaust und ruhelos, so als seien sie gar nicht richtig angekommen im Leben. Fast alle sind geschieden und jeder macht irgendetwas, was er eigentlich ursprünglich gar nicht tun wollte. So wie Mama, die Lehrerin geworden ist und doch eigentlich immer von einer Karriere als Journalistin geträumt hat. Oder Pitt, der ein Antiquitätengeschäft hat, in dem nie jemand etwas kauft, oder Pia mit ihrem komischen Service für Kindergeburtstage. Und alle machen immer noch den Eindruck, als sei alles nur vorübergehend,
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