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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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denen die Beeren letzte Woche noch rot gehangen hatten. Wahrscheinlich waren sie jetzt reif, obwohl es ziemlich kühl geworden war in den letzten Tagen. Das war dann ein extra Zubrot, wenn er sie heute Abend an eines der Hotels in Wildbad verkaufen konnte.
    Aber erst gab es noch etwas viel Wichtigeres, und wenn er daran dachte, schlug ihm das Herz hoch bis in die Kehle. Er musste sehen, wie es den neuen Bewohnern der Stadtmühle ging, die heute Nacht unter so dramatischen Umständen zu ihnen gekommen waren. Er lauschte. Im Haus war alles ruhig, man hörte ab und zu nur das röchelnde Schnarchen von den unteren Räumen, wo die Mühlbecks hausten. Wahrscheinlich hatte der Alte gestern wieder zu viel getrunken, weil er auf irgendeine Art und Weise zu ein paar Pfennigen gekommen war. Und die Kinder haben keine richtigen Kleider, von Hemden und Unterhosen ganz zu schweigen, dachte Johannes erbittert. Aber dann richtete er seine Gedanken wieder auf die Ereignisse der letzten Nacht.
    Jetzt ist Friedrich Weckerlin tatsächlich bei uns, dachte er. Schläft hier, mit uns unter einem Dach. Der reiche Friedrich Weckerlin, der in der Schule immer ganz weit hinten saß, bei den Klugen und Wohlhabenden, nicht vorne wie Johannes, der bei Gott nicht dumm war. Aber er war eben ein Stadtmühlenkind und musste deshalb vorne sitzen, bei den Dummen und den Armen – denn das war meist dasselbe. Und jetzt ist er hier, vielleicht muss er morgen auch vorne sitzen, vielleicht sogar neben mir, dachte Johannes und sein Herz klopfte noch lauter und heftiger.
    Nach einer Weile hörte er Stimmen, die von unten kamen, aus der Küche, die sich die Bewohner der Stadtmühle teilen mussten. Hastig schlug Johannes die dünne graue Wolldecke zurück und schlüpfte in seine Kleider. Vorsichtig tappte er die schief getretene Stiege hinunter, an der noch Reste der einstmals weißen Farbe klebten, die von vergangenen, besseren Zeiten der Stadtmühle kündete. Obwohl er auf Zehenspitzen ging, knarrten die Stufen fürchterlich. Dabei wollte er doch keinen Lärm machen, warum, wusste er selber nicht. Mühlbecks Schnarchen drang jetzt lauter an sein Ohr und im Schutz dieses Lärms lief er die letzten Stufen schnell hinab und huschte hinüber zur angelehnten Tür der großen Küche, aus der die Stimmen kamen.
    Ein Kind quengelte, es verlangte nach Essen, dazwischen hörte er die hohe, nervöse Stimme einer Frau, die das Kind zu beruhigen versuchte. Unbemerkt trat Johannes in die Tür. Auf den wurmstichigen Stühlen, von denen keiner zum anderen passte, saßen drei Kinder um den wackligen Tisch. Es waren Friedrich, der fast bewegungslos dahockte, den Kopf zwischen die Hände gepresst, und ein kleiner Junge, den Johannes schon öfter in Begleitung von Frau Weckerlin gesehen hatte. Es war der jüngere Sohn, Wilhelm hieß er, so glaubte Johannes zumindest ein paarmal gehört zu haben. Er sah seinem großen Bruder sehr ähnlich, beide hatten dieselben dunklen Locken und die braunen Augen.
    Das dritte Kind, das an der anderen Seite des Tisches saß, war wohl die kleine Schwester, sie konnte das Näschen kaum über den Tischrand strecken. Sie begann mit den Beinchen ungestüm zu schlenkern und gegen die Tischbeine zu stoßen, sodass der Tisch regelrecht ins Wackeln geriet.
    »Will Milch«, greinte sie, »Milch, kein Brot.« Dabei schubste sie mit einer zornigen Handbewegung ein Stück Brot weg, das vor ihr auf der Tischplatte gelegen hatte. Es war ein großes Stück Graubrot, Kommissbrot nannte man es. Frau Weckerlin stand vor dem Ausguss aus Speckstein und schnitt gerade eine weitere Scheibe ab, die sie Friedrich anbot. Der aber schüttelte den Kopf und schob das Brot in die Mitte des Tisches.
    Wo sie das Brot wohl herhaben?, dachte Johannes. Wahrscheinlich hatte Frau Weckerlin es noch mitnehmen können, gestern Abend, zusammen mit den paar Habseligkeiten, die in ihre Schürze und die Kommodenschublade gepasst hatten. Es hatte also auch schon vorher kein Weißbrot mehr gegeben im Hause der Weckerlins, kein duftendes, feinkrumiges Weißbrot, wie es Friedrich oft als Pausenvesper dabeigehabt hatte. Knapp sei es geworden bei den Weckerlins, das hatte er die Leute in der letzten Zeit oft sagen hören und die Ahne hatte das eine um das andere Mal gemeint: »Ja, ja, Hochmut kommt vor dem Fall. Haben die Nase ja immer mächtig hoch getragen, die Weckerlins. Mit dem Zylinder ist er zur Arbeit gegangen und wenn sie ihm zum Mittagessen im Henkelmann Bohnen gebracht hat, stand er
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