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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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all diese Gesichter sind, ich will wissen, zu wem ich gehöre!

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    Margarethe Haag, von allen im Dorf nur Gretl genannt, legt den Brief sorgfältig zurück auf den Tisch, nicht ohne zuvor noch einmal gewohnheitsmäßig über das tadellos saubere Wachstuch mit dem Blumenmuster gewischt zu haben. Jetzt würde sie also kommen, die Anna, die »kleine Anna«, wie sie Johannes immer genannt hat. Sie hat sie zuletzt gesehen, als sie ein ganz kleines Mädchen gewesen ist, fast noch ein Baby. Johannes ist damals hereingekommen und hat sie auf dem Arm gehalten. »Schau, meine kleine Anna«, hat er gesagt und dabei ganz glücklich ausgesehen. »Meine kleine Anna ... Es geht also weiter, Gretl, es gibt wieder eine Anna«, und sie hat ihm wortlos zugenickt und der Kleinen einen Keks hingehalten. Aber die hat nur den Kopf geschüttelt und das Gesichtchen in der Schulter des Urgroßvaters vergraben.
    Jetzt würde sie also kommen, endlich! Nachdenklich betrachtet Gretl den Briefumschlag, auf dem in noch kindlich runden Buchstaben ihre Adresse steht. Sie hat lange gebraucht, um den Brief zu entziffern, denn das Lesen fällt ihr trotz der Brille immer schwerer, aber eines ist ihr gleich nach den ersten Zeilen klar geworden: Marie ist tot. So jung gestorben! Der Krebs, denkt Gretl, er ist in der Familie. Nicht bei den Helmbrechts, aber bei den Oberdorfers. Der Vater der alten Marie und auch der Bruder sind jung daran gestorben.
    Versonnen sitzt Gretl eine Weile da und lauscht dem Ticken der alten Standuhr, lauscht dem unerbittlichen Klicken des Zeigers und denkt daran, wie die Lebenszeit immer weniger wird. Mit jedem Klicken bricht ein winziges Stück ab. Bald bin ich drüben bei den anderen, denkt sie, ob ich ihn und auch den anderen wiedersehen werde? Nach einer Weile erhebt sie sich schwerfällig und geht hinüber in das angrenzende Schlafzimmer. Mühsam lässt sie sich vor ihrem Bett mit den aufgeschüttelten Kissen nieder und zieht unter Keuchen und Schnaufen einen alten Holzkasten hervor. Vorsichtig öffnet sie ihn und holt einen in ein kariertes Tuch gewickelten Gegenstand heraus, mit dem sie dann wieder hinüber in die Küche schlurft. Auf der Wachstischdecke setzt sie ihn behutsam ab und schlägt den karierten Stoff zurück. Der Gegenstand wirkt in der kärglich eingerichteten Küche seltsam fremd. Es ist ein Schmuckkasten aus Silber und blauem Emaille, sehr kunstvoll gearbeitet, und auch der Deckel ist mit zarten Farben bemalt.
    Die Sonnenstrahlen, die schräg durch das gegenüberliegende Fenster fallen, scheinen mit den silbernen Figürchen förmlich zu spielen, denn plötzlich leuchtet der Kasten auf und die alte Gretl schließt für einen Moment wie geblendet die Augen. Als sie sie wieder öffnet, rinnen Tränen über ihre runzligen Wangen und sie wischt mehrere Male liebevoll mit dem Taschentuch über den Kasten, obwohl der makellos glitzert und glänzt. Ob sie es wohl verstehen wird?, denkt sie. Wie soll ich ihr das alles erklären? Aber Johannes hat ja Gott sei Dank einiges aufgeschrieben. Gedankenvoll streichelt sie den Deckel mit den zarten Farben. »Da drin steht es, das Wichtigste jedenfalls, den Rest erzählst du ihnen«, hat Johannes immer gesagt.
    Unwillkürlich seufzt sie tief auf. Ob sie es wirklich verstehen kann? Ich will, dass sie das richtige Bild von Johannes bekommt. Und von Friedrich natürlich, und von Marie. Von Georg muss ich ihr auch erzählen. Und von der Stadtmühle, wo alles anfing. Kann sich das ein junger Mensch von heute überhaupt vorstellen? Sie denkt für einen Moment an die knarrenden, schief getretenen Dielen, sieht einen alten wackligen Tisch mit vielen Kerben, die wie Runen eine Erinnerung an die vielen namenlosen Menschen bewahren, die die Stadtmühle bewohnt haben. Sie sieht zwei Jungen am Tisch sitzen, die die Köpfe zusammenstecken, einen hellen und einen dunklen, hört das Gewisper des Windes, der unbarmherzig durch die alten, blinden Fenster gedrungen ist und sie hat frieren lassen in den langen Winternächten. Sie riecht noch einmal diesen unerträglichen Gestank, der vom schiefen Aborthäuschen gleich neben dem Eingang ins Haus gedrungen ist und über dem an den heißen Sommertagen Schwärme von Fliegen hingen, die in Nase und Mund gekrochen sind.
    Plötzlich richtet sich Gretl energisch auf und holt von einem bunt bemalten Schlüsselbrettchen neben der Küchentür einen großen, altmodisch aussehenden Schlüssel. Sie greift nach ihrem Stock und humpelt energisch zur Haustür
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