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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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hinaus. Der Weg, den sie einschlägt, ist kurz, aber mühsam, denn es geht steil bergauf. Sie muss hinauf zum Waldrand, wo einige alte, mächtige Buchen mit ihren zartgrünen Blättchen den dunklen eintönigen Fichtenwald säumen. Unmittelbar davor duckt sich ein kleines Häuschen unter ihren mächtigen Schatten. Es ist ein Schindelhäuschen, das einstmals weiß gestrichen gewesen ist, jetzt aber bedeckt ein grünlich brauner Film vor allem die vordere Wetterseite. Ihr Ziel immer fest im Blick zieht sich die alte Gretl mühsam die letzte Steigung hinauf und schaut, oben angekommen, auf die hinter ihr liegende Straße. Sie keucht rasselnd und ringt nach Atem. Von Mal zu Mal fällt ihr das Hinaufgehen schwerer. Es wird höchste Zeit, dass sich jemand anderer um das Haus kümmert, denkt sie. Aber trotzdem – es ist immer wieder eine wunderschöne Aussicht von hier oben gewesen. Oft hat sie hier gesessen und zu Johannes gesagt: »Du hast von da oben einen Blick wie ein König. Sitzt hier wie ein Adler im Horst«, und er hat dann jedes Mal mit dem Kopf genickt und gelächelt. Wahrscheinlich hat er auch daran gedacht, dass dieser Ausblick schöner war als der vom großen Haus auf der anderen Seite des Berges, wo man wegen der hohen Bäume nicht ins Tal sehen konnte und nur zur Bergseite hin freie Sicht hatte. Aber der das große Haus gebaut hat, wusste damals sicher, warum das so war.
    Mit zitternden Fingern gelingt es ihr endlich nach mehreren Versuchen, den Schlüssel in das Schloss zu stecken, und knarrend weicht die Haustür zurück, von der die braune Farbe fast vollständig abgeblättert ist. Vorsichtig auf den Stock gestützt, tappt Gretl durch die Räume und registriert dabei mit missbilligendem Blick die kleinen Häufchen Sägemehl, die unter den hölzernen Türpfosten und vor allem unter der Flurtreppe sichtbar sind. Der Holzwurm, denkt sie, er frisst das ganze Haus auf. Erst letzte Woche haben wir alles gefegt und jetzt ist wieder alles voll mit dem Sägemehl. Und der elende Holzwurm macht weiter und eines Tages fällt das alles hier zusammen! Sie lässt sich schwerfällig auf einem der Küchenhocker nieder und starrt eine Weile auf die andere Seite des Tisches, als erwarte sie, dass da jemand sitzen müsse. Jemand mit dichten weißen Haaren, den Kopf tief über die Zeitung gebeugt, die er aufmerksam studiert. Ab und zu hat er ihr vorgelesen, wenn ihn etwas besonders bewegt hat, und dabei hat er manchmal mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. Bis zu seinem letzten Tag konnte er noch wütend werden, denkt Gretl fast belustigt, hat er noch teilgenommen an der Welt.
    Ach, wenn er sein Haus, auf das er so stolz gewesen ist, jetzt sehen würde. Der Richard sagt, dass man es nicht mehr retten kann, es würde viel zu teuer kommen. »Es ist alles kaputt«, sagt er immer, »da hilft nichts, Tante Gretl. Höchste Zeit, dass die Erben sich endlich mal entscheiden, bevor noch etwas passiert. Und dir ist es auch nicht mehr zuzumuten. Das ist doch keine Art, sich einfach taub zu stellen. Die Kosten für den Abbruch müssen sie auf jeden Fall tragen. Es hilft alles nichts, das Haus muss weg. Aber das Fundament ist gut.«
    Nun, jetzt würde sie ja kommen. Die Anna aus dem fernen Berlin. In den nächsten Tagen müsste man noch einmal fegen, damit es nicht gar so schlimm aussieht. Auf der anderen Seite ist es vielleicht besser, ihr gleich die Wahrheit zu sagen. Aber das muss der Junge tun und Richard – die verstehen ja auch etwas davon.
    Sorgfältig schließt Gretl wieder ab und wirft noch einen bekümmerten Blick auf den Garten, wo all die Kohlstrünke und umgefallenen Bohnenstangen auf der unregelmäßig aufgeworfenen Erde liegen, die sich wie Narbengeflecht um das Haus zieht. Einige alte, knorrige Zwetschgenbäume tragen noch den weißen Blütenflaum und erstes frisches Grün an den Ästen. Sie mildern etwas den Eindruck der Vernachlässigung und des Verfalls, der überall sichtbar ist. Noch im letzten Frühjahr hat sie im Garten gegraben, Salatschösslinge gepflanzt und Bohnen gesät, die sich dann an den Stangen hinaufrankten, genauso wie es Johannes immer gemacht hat.
    Sie sieht für einen Moment den Garten im flirrenden Licht der schon lange vergangenen Sommer, sieht zwei Kinder übermütig kichernd Verstecken zwischen den dichten Bohnenranken spielen. Sieht einen schwarzen Lockenkopf und ein Köpfchen mit nussbraunen festen Zöpfen. Aber dann schiebt sie die Erinnerung weg, sie tut weh. Vorsichtig tappt Gretl
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