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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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den Weg wieder hinunter, auf der steil abfallenden Straße zwischen den neuen Häusern, großen viereckigen gesichtlosen Kästen, die alle gleich aussehen und ihren Weg säumen wie strammstehende Soldaten. Und das alte Häuschen da oben wirkt, als ob sich in diese wohlgeordnete Parade ein zerlumpter Clown geschoben hätte.
    Erinnern, denkt Gretl im Hinuntergehen, ich muss mich an so vieles erinnern, auch wenn es wehtut, denn sie wird es wissen wollen, und ich weiß nicht, was Johannes aufgeschrieben hat. Ich muss mich erinnern an die Stadtmühle, an das, was Mutter mir erzählt hat, wie es angefangen hat, damals.

3
     
    Blinzelnd wachte Johannes auf. Die durch das Fenster fallenden Sonnenstrahlen hatten ihn an der Nase gekitzelt und geweckt. Er musste niesen und blickte erschrocken auf die andere Seite des Zimmers, wo schräg gegenüber eine kleine, gekrümmte Gestalt auf dem alten Sofa lag, ganz eingehüllt in eine zerschlissene dunkelbraune Decke. Hoffentlich hatte er die Ahne nicht aufgeweckt. Sie hatte noch etwas Schlaf bitter nötig, denn gestern hatte sie den ganzen Tag bei der Frau Pfarrer geholfen, wo großer Waschtag war. Die Ahne half vielen Leuten im Dorf, beim Großputz, beim Waschtag und wenn geschlachtet wurde, denn die grobe Arbeit verrichtete sie klaglos und mit größter Zuverlässigkeit für ein paar Pfennige.
    Die Armenhäusler mussten schließlich froh sein, wenn man ihnen überhaupt ab und zu etwas zusteckte, man wusste ja, was das für ein Gesindel war. Allerdings konnte man über die alte Babette nichts sagen. Sie war sauber und ehrlich, auch richtig dankbar und angemessen demütig, wenn sie nach getaner Arbeit am Küchentisch saß und ihr Essen verzehrte, das man großmütig als Draufgabe gewährte. Und man gab auch dem Jungen noch etwas ab, der gleich nach der Schule zum Helfen kam. Er schleppte die Wäschekörbe oder die schweren Eimer, weil das die Babette mit ihren morschen Knochen und dem gekrümmten Rücken nicht mehr richtig konnte.
    Ein Unehelicher war er, das Kind einer Großnichte der alten Ahne, wie sich die Leute erzählten, aber er war fleißig und anständig, das war wohl ein Trost für die Alte, die solch moralisch bedenkliche Verhältnisse in ihrer Familie eigentlich nicht verdient hatte. Der Junge ließ es allerdings an Demut fehlen, er guckte einen immer so herausfordernd an mit diesen merkwürdig blauen Augen, von denen niemand wusste, wo sie herkamen. Keiner im Dorf hatte solche Augen, wahrscheinlich waren sie vom unbekannten Vater, dem verkommenen Subjekt. Und er sagte auch immer so provozierend »Danke«. Es klang eigentlich richtig unverschämt – aber egal, sie waren fleißig und billig, die alte Babette und der Junge.
    Johannes verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln auf die rissige, graue Decke. Die Ahne schimpfte immer mit ihm, wenn er nicht »ehrerbietig« genug war, wie sie es nannte.
    »Du musst dich verbeugen und darfst den Leuten nicht so frech ins Gesicht schauen, Johannes«, predigte sie immer wieder und er sagte dann jedes Mal: »Warum soll ich die Leute nicht anschauen? Wir sind genauso viel wert wie die, und das, was sie dir bezahlen, ist viel zu wenig. Den alten Trödel, den sie dir oft genug als Lohn aufhalsen, hätten sie sowieso weggeschmissen.«
    Das war nämlich das Schlimmste für die Ahne, wenn sie statt des Geldes irgendwelche Gegenstände oder auch Kleider bekam, die sie oder der Junge eigentlich gar nicht brauchen konnten. Mottenzerfressene alte Mäntel oder angeschlagenes Geschirr halfen wenig, wenn man dringend auf Geld angewiesen war, mit dem man Brot, Mehl oder sogar ein paar Eier kaufen konnte; denn die paar Groschen von der Gemeinde reichten nirgends hin. Immerhin war Johannes so zu einer Matratze gekommen, genauer gesagt waren es drei Matratzenteile gewesen, durchgelegen und zerschlissen und nach Schweiß riechend. Aber nachdem er sie ein paar Tage zum Lüften nach draußen gestellt und der prallen Mittagssonne ausgesetzt hatte, ging es einigermaßen und es schlief sich besser auf ihnen als auf dem alten Strohsack, den er vorher gehabt hatte.
    In der Zwischenzeit fielen die Sonnenstrahlen in einem steileren Winkel in das Zimmer. Johannes überlegte: Die Kirchenglocken hatten vorher achtmal geschlagen, aber es war Sonntag und er konnte noch ein bisschen liegen bleiben. Vielleicht würde er heute Nachmittag hinaufgehen auf den Eiberg. Am Katzenbuckel gab es viele Brombeerbüsche, an
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