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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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auf und hat die Bohnen auf die Erde gekippt. ›Ein Weckerlin frisst keine Bohnen!‹, hat er gebrüllt und dabei schallend gelacht und seine Gesellen und Lehrlinge mit ihm. Und dann haben sie ihn eines Tages tot aus der Enz gezogen! Mich hat sie früher nicht einmal angesehen, hat für die Wäsche die Keppler’sche genommen mit ihrem Getue, obwohl die doppelt so viel verlangt wie ich. Nicht angeschaut hat sie unsereins! Nun ja, aber leid tut sie mir trotzdem.«
    Und jetzt stand sie in der Küche der Stadtmühle, die stolze Frau Weckerlin. Die graue Bluse und der Rock aus schwarzem Taft waren sicher nicht ihre besten Kleider, die hatte sie wohl zurücklassen müssen im schönen Haus oben in der Herrengasse. Aber trotzdem sah sie immer noch richtig vornehm aus, jedes einzelne Härchen ihres hellbraunen Haares war zurückgestrichen und hinten zu einem akkuraten Knoten aufgesteckt. Sie passt gar nicht hierher, dachte Johannes, sieht aus wie – ihm fiel auf Anhieb kein passender Vergleich ein, dann erinnerte er sich an die Schwäne auf der Enz. Das war es! Sie wirkte wie ein stolzer Schwan auf einem schmutzigen Tümpel. Mitten in seine Überlegungen hinein brüllte wieder das kleine Mädchen, das mit seinen glatten braunen Haaren das Ebenbild der Mutter war.
    »Milch, will Milch!«, plärrte sie weiter. Blitzschnell stieß sich Johannes vom Türrahmen ab und rannte die Treppe wieder hinauf. Die Ahne lag immer noch wie ein Häufchen Lumpen da und brabbelte unverständliches Zeug vor sich hin. Wahrscheinlich hatte sie wieder Schmerzen im Rücken. In einem kleinen wurmstichigen Schränkchen bewahrten Johannes und die Ahne ihre Lebensmittelvorräte auf. Die Küche, zu der alle Zugang hatten, wäre ein zu unsicherer Ort gewesen. Jeder Stadtmühlenbewohner hütete ängstlich sein bisschen Brot und Schmalz. Das Essen war eine Frage des Überlebens und vor allem dem verkommenen Mühlbeck traute man nicht über den Weg. Es kam allerdings auch vor, dass man den einen oder anderen Kanten Brot abgab, wenn beispielsweise eines der Mühlbeck-Kinder vor Hunger weinte, weil der Alte das letzte Geld wieder einmal in Schnaps umgesetzt hatte.
    Ohne lange zu überlegen, griff Johannes nach dem Milchtopf, den die Ahne ganz nach hinten gestellt hatte. Den halben Liter Milch hatte sie gestern nach dem Waschtag in der Molkerei erstanden, sie war eine Kostbarkeit, ausschließlich für Johannes bestimmt. Bei der letzten Untersuchung in der Schule hatte der Doktor nämlich zu Johannes gesagt, er sei viel zu klein und zu schwächlich für sein Alter. »Und auf der Lunge höre ich Geräusche«, hatte er vorwurfsvoll zur Ahne gemeint und sie dabei über den Rand seines goldenen Kneifers missbilligend angesehen. »Der Junge braucht gute Kost, Milch, Sahne und Butter.«
    Und die Ahne, die hinter Johannes stand, hatte sich noch mehr zusammengekrümmt und demütig »Jawohl, Herr Doktor« gemurmelt.
    Johannes hasste diese Untersuchungen, hasste die endlose Reihe von blassen jungen Leibern und den süßlich dumpfen Schweißgeruch. Am meisten aber hasste er die Scham, die jedes Mal brennend in ihm aufstieg. Er wurde ausgelacht, das merkte er ganz genau, kichernd und prustend stießen sich die anderen an, und er hörte das Getuschel der Mütter und spürte die gehässigen Blicke in seinem Rücken. Zwar trugen viele Kinder Unterwäsche, die vielfach gestopft und grau vom häufigen Waschen war, aber er hatte nicht einmal richtige Wäsche, nur eine Unterhose, die ihm viel zu groß am schmächtigen Leib hing. Sie wurde nur von einer Schnur festgehalten und trotzdem rutschte sie immer, sodass er sie mit beiden Händen hochziehen musste, wenn er nach vorne zum Doktor ging. Die Ahne hatte die wenigen Wäschestücke, die sie besaßen, aus den Lumpensäcken gerettet, einstmals hatten sie wohl dem Herrn Pfarrer oder der Frau Oberlehrer gehört.
    Und so lachten sie ihn aus. Die Armen lachten über ihn, den noch Ärmeren, diese lächerliche, magere Gestalt in der zerschlissenen und viel zu großen Hose. Und auch über die Ahne lachten sie, diesen kleinen, gebückt gehenden Zwerg mit dem spitzen Buckel im verblichenen Kattunrock und dem schwarzen Wollumhang, den sie immer fest um sich gezogen hatte, als könne sie so die Blicke und den Spott abwehren. Aber um Johannes sorgte sie sich und die Worte des Doktors nahm sie ernst. Wann immer es ihr möglich war, zwackte sie ein paar Pfennige ab, um Johannes Milch zu kaufen, richtig gute, fette Milch und keine verwässerte
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