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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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graue Molke, wie sie die Mühlbeck-Kinder zu trinken bekamen.
    Diese kostbare Milch nahm Johannes und trug sie vorsichtig hinunter in die Küche, wo die Kleine immer noch nach Milch schrie und dazwischen immer wieder ein stoßweise herausgepresstes »Will nach Hause!« brüllte. Erschrocken sah Johannes, dass Frau Weckerlin weinte. Das Kommissbrot lag mit dem Messer auf dem Tisch und daneben stand sie und presste das Gesicht in die Hände, von zuckendem Schluchzen geschüttelt. Der kleine Wilhelm saß mit weit aufgerissenen Augen da, er kaute mechanisch, als sei diese gewohnte Tätigkeit ein letztes Bollwerk gegen die Schrecken des Neuen, die über ihn hereingebrochen waren.
    »Hier, nehmen Sie, Frau Weckerlin.« Johannes streckte ihr rasch den angeschlagenen Topf mit den blauen Tupfen entgegen. »Es ist Milch, richtige Milch. Für die Kleine da.« Er zögerte einen Moment und dann fügte er mit unsicherer Stimme hinzu: »Und für ihre Söhne.«
    Was rede ich da für einen Quatsch?, dachte er, es sind ja alles ihre Kinder, und er vermied es geflissentlich, in die Ecke zu schauen, wo Friedrich saß. Stattdessen blickte er gebannt auf Frau Weckerlin, die sich erschrocken zu ihm herumgedreht hatte und ihn anstarrte. Das kleine Mädchen hatte zu weinen aufgehört und es war für einen Moment totenstill. Johannes bemerkte zu seinem Erschrecken, dass ihm eine heiße Röte ins Gesicht stieg. In die Stille hinein sagte Frau Weckerlin plötzlich: »Danke, mein lieber Junge. Aber das kann ich nicht annehmen.«
    Statt einer Antwort schüttelte Johannes den Kopf und streckte ihr auffordernd den Milchtopf entgegen, den sie dann auch wirklich zögernd in die Hände nahm. Sie umklammerte den Topf so fest, dass Johannes für einen Moment meinte, sie müsse ihn zwischen ihren schmalen Fingern zerbrechen. Aber dann streckte sie mit einer ruckartigen Bewegung den Topf wieder Johannes entgegen.
    »Das geht nicht. Die Milch gehört dir.« Ein scheuer Blick streifte Johannes. »Du brauchst sie doch selber. Aber trotzdem, danke. Du bist ein guter Junge.« Ungeschickt nahm Johannes den Topf wieder an sich und kam sich mit einem Mal lächerlich vor. Gedemütigt von dieser Frau, die sich eben mit beiden Händen unter den Augen entlangstrich, um schnell die Tränenspuren zu verwischen. Stolz und hochnäsig ist sie immer noch, dachte er plötzlich und spürte, wie ein wilder Zorn in ihm hochkroch. Nimmt nichts von uns, den Armenhäuslern.
    Er wollte sich abrupt umdrehen und hinausgehen, als auf einmal die Tür aufgestoßen wurde und Lene hereinkam. Sie blieb für einen Moment verblüfft stehen und raffte den Morgenrock über dem hochgewölbten Bauch enger zusammen. Der Morgenmantel war auf den ersten Blick ein prachtvolles Stück, das gar nicht in die schäbige Küche passte. Er war purpurrot und über und über mit silberblauen und grüngoldenen Blüten bedruckt. Beim näheren Hinsehen bemerkte man aber, dass das gute Stück schon arg zerschlissen und an einer Stelle auch gestopft war. Wahrscheinlich war es das Geschenk eines ihrer »Kavaliere«, wie sie die Männer nannte, die in der Abenddämmerung verstohlen nach oben huschten, vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die knarrende Treppe setzend, und dann mit abgewandtem Gesicht in Lenes Zimmer verschwanden. Es waren richtig vornehme Herren darunter. Johannes kannte sogar den einen oder anderen. Bei den Festzügen, die sich bei einem der vielen Vereinsfeste durch die Dorfstraßen wälzten, gingen sie immer in den vorderen Reihen, gleich neben dem Bürgermeister und dem Herrn Pfarrer.
    Seit Lene vor zwei Jahren vom Dienst in Stuttgart in ihr Heimatdorf zurückgekommen war, ging das so und Johannes, der sich zuerst verwundert gefragt hatte, was diese Männer plötzlich alle in der Stadtmühle zu suchen hatten, wurde der Zweck ihres Kommens erst allmählich klar. Der älteste Mühlbeck-Junge, Ludwig, hatte auf seine harmlose Frage eines Abends in der Küche ein hässliches Wort geschrien und brüllend gelacht, als Johannes entsetzt zurückgewichen war. Die Mühlbeck-Kinder wussten Bescheid, lebten ja alle in einem Zimmer und waren Augen- und Ohrenzeugen, wenn der Alte, wie sie ihren Vater nannten, betrunken heimkam und von seiner Frau die ehelichen Rechte einforderte. Die Mühlbeck’sche drehte sich dann seufzend auf den Rücken und ließ ihn gewähren. Die Geräusche, das Ächzen des Bettes und das Seufzen und Stöhnen waren die gleichen, die von oben aus Lenes Zimmer drangen. Und die
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