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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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mit dem weiß eingefassten Kragen. Und gute Schuhe hatte er. Richtig feste, genagelte Lederschuhe mit dicken Sohlen, die Kälte und Nässe abhielten. Johannes blickte an seinen Beine herab – dürr wie Bohnenstangen, wie die Ahne immer sagte, braun gebrannt und zerkratzt von seinem gestrigen Ausflug auf den Katzenbuckel. Denn er hatte die Zähne zusammengebissen, war zwischen die Brombeerbüsche gekrochen und hatte auch nicht die allerkleinste Beere zurückgelassen. Die Ausbeute war gut gewesen, sechzig Pfennig hatten sie vom Koch des »Badhotels« bekommen, einem schweigsamen, mürrischen Menschen, der stets betonte, er sei nicht der Koch, sondern etwas anderes, französisch klingendes, das absolut nicht in Johannes Kopf hineinwollte. Er sagte konsequent »Koch« und man wusste dann im Badhotel schon, wohin er wollte, wenn er mit seinem Beerenkorb am Lieferanteneingang auftauchte.
    Undenkbar, dass der stolze Friedrich Weckerlin eines Tages mit dabei sein würde. Undenkbar ...? Nachdenklich starrte Johannes auf die Stelle, an der er Friedrich zuletzt gesehen hatte. Er würde sich schon noch umgucken, der hochnäsige Herr Weckerlin, für den er früher Luft gewesen war; wie alle Kinder aus den vorderen Reihen. Friedrich war in einem Teil der Welt angelangt, von der er nichts, aber auch gar nichts wusste. Der Welt, in der Johannes lebte.
    Nein, undenkbar war nichts mehr für Friedrich Weckerlin, er wusste es nur noch nicht. Das nagende Gefühl der Enttäuschung war gewichen. Johannes fühlte plötzlich eine erwartungsvolle Spannung: Wie würde das werden, wenn Friedrich endgültig in diese Welt hineingestoßen wurde, Friedrich mit dem Matrosenanzug und den festen Lederschuhen?
    Johannes ging zurück in das Zimmer und kramte Tafel und Lesebuch zusammen. Die Ahne war in der Zwischenzeit aufgestanden und kaute bedächtig an einem Kanten Brot. Sie hatte fast keine Zähne mehr und musste deshalb die harte Kruste einspeicheln, bevor sie sie hinunterschlucken konnte. Wortlos schob sie die andere Hälfte des Brotkantens Johannes hin, der den Kopf schüttelte. Er druckste etwas herum, sagte dann aber doch zögernd: »Ahne, wie machen wir’s denn nun mit den Schuhen? Bald kommt der Winter.«
    Sie bewegte den Mund mit den dünnen, blutleeren Lippen, um den Brotkanten weich zu bekommen, schluckte und würgte und sagte dann etwas undeutlich: »Geh nächste Woche zum Dederer, zum Großputz. Vielleicht fällt da ein Paar für dich ab.« Beim Sprechen spuckte sie kleine Brotkrümel aus, die ihr am Kinn hängen blieben. Aber sie schien das nicht zu bemerken. Schnell griff sie nach dem Brotstück, das Johannes verschmäht hatte, und stopfte es sich in den Mund. Und wieder bewegte sie die Lippen in fieberhafter Hast. Selbst das Essen war für die Ahne zu einem mühevollen Geschäft geworden.
    Doch Johannes hatte sie verstanden; der Dederer war großzügig und vielleicht konnte ihm die Ahne ein Paar alte Schuhe abschwatzen. Bis Oktober konnte man noch gut barfuß gehen, so wie viele Kinder hier im Ort. Schuhe waren teuer, sie mussten geschont werden und oft langte es nur zur Anschaffung eines Paares für den Winter, das dann im nächsten Jahr an die Geschwister weitervererbt wurde. Wenn die Kälte zu früh kam oder es in einem Jahr für die Schuhe nicht reichte, umwickelte man die Füße mit alten Lumpen. Und wenn auch das nicht mehr ging, musste man eben daheim bleiben, obwohl der Rektor dann schimpfte und von »Schulpflicht« und Ähnlichem redete. Aber das war leicht gesagt; wie sollte man auf eisig gefrorenem Boden oder im Schnee mit buchstäblich nichts an den Füßen zur Schule kommen? Irgendwie war es für Johannes wichtig geworden, nie in diese Lage zu kommen, so wie etwa die Mühlbecks, die Ärmsten der Armen. Denn jedermann wusste, warum man ab November keines der Kinder mehr auf der Straße sah.
    Den Winter durchzustehen, mit irgendetwas an den Füßen, das war eine Frage der Selbstachtung. Im letzten Jahr hatte er ein Paar Schuhe vom Herrn Pfarrer bekommen. Sie waren schon ganz durchgetreten und hatten sogar ein Loch in der Sohle, außerdem waren sie ihm viel zu groß. Aber er hatte sie mit Papier und alten Lumpen ausgestopft und so ging es leidlich, obwohl sie Kälte und Nässe nicht lange abhielten und er seltsam darin aussah, fast so wie der Junge im Märchen von den Siebenmeilenstiefeln.
    Johannes schloss die Augen und sah für einen Moment die schönen, festen Schuhe an Friedrich Weckerlins Füßen. Dieses Jahr passten
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