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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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die er gemacht hat. Wie schade, dass ich ihn nie kennengelernt habe, ihn und Johannes, meinen Urgroßvater.
    Eine Sache hat sie bis dahin bedrückt, ohne dass sie es sich richtig eingestanden hat. Warum hat ihre Mutter Johannes und Marie so selten besucht? Warum ist sie nach dem Tod ihrer Großmutter Marie nur noch einmal in Grunbach gewesen, damals mit ihr, Anna, als kleinem Kind, obwohl Johannes immer wieder geschrieben hat, sie möge doch mit der Kleinen wiederkommen? Ist es wirklich nur Maries Abscheu vor dem Mief der Armut und den beengten Verhältnissen im Großvater-Haus gewesen? Sie hat am Morgen noch mit Gretl darüber gesprochen und die hat gemeint, dass Marie darunter gelitten hatte, ein uneheliches Kind zu sein.
    »Ganz Grunbach hat ja Bescheid gewusst und da gab es viele Hänseleien. Früher galt es noch als Schande, unehelich geboren zu sein.«
    Gretl hat dann etwas gezögert, aber auf Annas Nachfrage hat sie schließlich zugegeben, dass sich Marie wohl auch ihrer Großeltern geschämt habe. »Wenn beispielsweise eine Feier in der Schule war, dann kamen die anderen Kinder mit ihren Eltern. Sie wurde von Johannes und Marie begleitet, einer älteren Frau in einem altmodischen schwarzen Kleid und einem grauhaarigen Mann in einem abgetragenen Anzug. Sie hat an ihren Großeltern gehangen, ganz sicher, war ihnen auch dankbar«, hat Gretl dann noch schnell hinzugefügt, »aber sie wollte weg, weit weg, das hat sie mir oft gesagt. ›Der Opa immer mit seinen alten Geschichten‹, hat sie geklagt, ›dauernd erzählt er mir von früher. Dabei interessiert mich das gar nicht. Ich will mein eigenes Leben anfangen, was kümmert mich da die Vergangenheit!‹ Und sie wollte es allen zeigen, die auf sie herabsahen. Deshalb ist sie wohl auch so weit weg nach Berlin gegangen, obwohl das Johannes und Marie gar nicht recht war«, hat Gretl noch nachdenklich hinzugefügt.
    Ach Mama, dass wir darüber nicht mehr reden können, denkt Anna jetzt wehmütig. Ich verstehe dich nicht, verstehe dich immer noch nicht. Gut, es war nicht einfach für dich. Hast bei deinen Großeltern gelebt, die ganz in der Vergangenheit stehen geblieben waren. Du dagegen wolltest das Vergangene hinter dir lassen, es bedeutete dir nichts, wolltest alles in Grunbach abstreifen wie ein zu klein gewordenes Kleid. Du hast geglaubt, du könntest nur für die Zukunft leben. In dieser Hinsicht bist du wie er, bist ganz und gar Friedrichs Tochter gewesen.
    Richard hat sie beim Abschied gefragt, ob sich etwas verändert hat, nun, da sie alles weiß.
    »Ich bin mir nicht sicher«, hat sie nachdenklich erwidert, »über vieles muss ich noch nachdenken.«
    Sie hat ihm das Bild vom losen Faden beschrieben und dass sie sich endlich verwoben fühle in dieses wunderliche Muster, das ihre Familie bildet.
    Das hat Richard gefallen. »Vor Fehlern wird dich dieses Wissen nicht bewahren und dein Leben musst du ganz alleine meistern. Aber es hilft, seine Wurzeln zu kennen. Daraus schöpft man oft mehr Kraft, als man denkt.«
    Die Zukunft wird es zeigen, denkt Anna. Irgendwann möchte ich die Geschichte meiner Familie aufschreiben, für meine Kinder und für mich selber. Wie es wirklich war, werde ich nie erfahren. Aber ich kann eine Annäherung versuchen, immerhin. Und es ist eine Geste der Solidarität mit ihnen allen, die jetzt zu mir gehören. Ich habe sie nie kennengelernt, aber ich will mich an sie erinnern, mein ganzes Leben lang.
    »Übrigens«, hat Richard noch beiläufig gefragt, »hast du aus Johannes’ Aufzeichnungen irgendetwas über die drei verschwundenen Taugenichts-Bilder erfahren?«
    Anna hat gelächelt. »Das ist ein ganz spezielles Caspar-Helmbrecht-Familiengeheimnis. Johannes hat wie so viele Deutsche erst nach dem Krieg das ganze Ausmaß der Naziverbrechen erfasst. Er hat davon gelesen, hat Bilder gesehen und er hat mit Bitterkeit feststellen müssen, dass man recht schnell wieder zur Tagesordnung überging. ›Wie damals 1918‹, hat er geschrieben, ›aber diesmal war es schlimmer, viel schlimmer.‹ Auf der anderen Seite hat er im Laufe der Zeit auch erkannt, dass im Namen der Idee, an die er seit der Begegnung mit Paule geglaubt hatte, ebenfalls furchtbare Verbrechen begangen worden waren. Irgendwann, es muss 1948 gewesen sein, ist er zu deinem Vater gegangen und hat ihn gebeten, dass er die Taugenichts-Bilder wieder zurückkaufen könne. ›Aber warum denn?‹, hat dein Vater verblüfft gefragt. ›Ich denke gar nicht daran, Herr Helmbrecht,
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