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Bedroht

Bedroht

Titel: Bedroht
Autoren: Hans Koppel
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Anna und Hedda stiegen hinten ein. Lukas versuchte im Rückspiegel den Blick seiner Frau einzufangen, und diese legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er nahm ihre Finger.
    Es herrschte kaum Verkehr, und sie fuhren zügig durch die nördlichen Stadtteile ans Meer hinunter und weiter in den ruhigen Vorort, der nun schon so viele Jahre, eine halbe Ewigkeit, ihr gemeinsames Zuhause war.
    Die Straßen zwischen den Einfamilienhäusern waren menschenleer. Die feuchte Luft umgab die Straßenlaternen wie eine weiße Aura, und die Autos in den Auffahrten waren taugesprenkelt. Sie stiegen aus dem Auto und ließen sich von der vertrauten Umgebung beruhigen. Lukas ging voraus, schloss auf und hielt die Tür auf. Sie machten Licht und ließen sich in der Küche auf die Stühle sinken.
    »Meine liebe Mutter«, sagte Anna und kämpfte vergeblich gegen die Tränen an.
    Hedda und Lukas umarmten sie beide.
    »Und das ist meine Schuld«, sagte Anna. »Meine.«
    Lukas strich ihr übers Haar.
    »Nein«, sagte er. »Ist es nicht.«
    Anna schluchzte.
    »Ich wäre gern wie sie. Mutig und gut.«
    »Du bist wie sie«, sagte Hedda. »Du und Oma, ihr seid euch so ähnlich.«
    Anna schob die beiden von sich weg und erhob sich. Sie holte tief Luft, schüttelte den Kopf, ging zur Spüle und riss ein großes Stück Küchenkrepp ab. Hedda streckte die Hand aus und bekam auch ein Stück, Lukas ebenfalls. Sie trockneten ihre Tränen und schnäuzten sich.
    Anna sah ihre Tochter an.
    »Du schläfst bei uns im Bett«, sagte sie.

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    Anna hielt Hedda fest umklammert.
    »Mama …«
    »Ja?«
    »Ich kriege keine Luft.«
    »Verzeih, Liebes.«
    Sie ließ etwas los.
    »Besser?«
    »Hm.«
    Schweigend lagen sie da und atmeten im gleichen Rhythmus. Anna erinnerte sich an das Gefühl aus ihrer Kindheit, eine Person so sehr zu lieben, dass man sie am liebsten aufgefressen hätte. So war es mit Alexander gewesen, einem Jungen aus der sechsten Klasse. Hübsch, bewundert, von allen angehimmelt. Der Traum aller Mädchen. Anna hatte mit ihm auf einer Geburtstagsfeier getanzt und dabei ein unaussprechliches Glücksgefühl empfunden. Da war ein Erwachsener ins Zimmer gekommen, hatte den letzten Tanz angekündigt und einen Klammerblues aufgelegt. Eng umschlungen im Dunkeln hatte Anna sich nicht beherrschen können und ihren Tanzpartner fest in die Schulter gebissen. Er hatte aufgeschrien, jemand hatte Licht gemacht, und die Musik war mit einem wütenden Schrammen verstummt, als jemand die Nadel von der Schallplatte riss. Schockierte Schüler und hasserfüllte Blicke der anderen Mädchen aus der Klasse, die jetzt ihre Chance gekommen sahen, Alexander zu trösten und über Anna herzuziehen, wobei ungewiss gewesen war, was höher auf ihrer Liste gestanden hatte.
    Als Kathrine ihre Tochter wenig später abgeholt hatte, hatte man ihr das Geschehen bruchstückhaft geschildert. Alle Zeugenaussagen hatten einen anklagenden Unterton: Das Mädchen sei nicht ganz in Ordnung.
    Kathrine hatte ihre Tochter bei der Hand genommen und war gegangen.
    »Weißt du was?«, hatte sie gesagt, als sie fast zu Hause angelangt waren.
    Anna hatte ihre Mutter mit großen Augen angeschaut und bedingungslose Liebe in ihren Augen gesehen.
    »Wenn du einmal groß bist, wirst du deinen Mann sehr glücklich machen.«
    Hedda schlief. Anna hatte ihren Unterarm immer noch auf ihrer Brust liegen. Die regelmäßigen Atemzüge beruhigten sie. Sie hörte, dass Lukas im Haus das Licht löschte und sich überzeugte, dass die Türen abgeschlossen waren.
    Anna ließ Hedda los und stand vorsichtig auf. Sie blieb in der Tür stehen und betrachtete ihre Tochter. Sie musste gegen die Tränen ankämpfen. Lukas trat neben sie und legte ihr einen Arm um die Schulter. Sie betrachteten schweigend die Frucht ihrer Liebe.
    Anna drehte sich um, und sie küssten sich zärtlich. Ein Kuss, ohne Unterbrechung, der allem Raum gab und wachsen durfte. Eng umschlungen und immer eiliger begannen sie, sich gegenseitig auszuziehen. Sie taumelten gegen die Wand der Diele und stießen an den Türpfosten, als sie sich auf das leere Bett in Heddas Zimmer zukämpften. Als sie kam, musste Anna ihr Gesicht in das Kissen bohren, um ihre Tochter im Nebenzimmer nicht zu wecken.
    Ihre Mutter hatte recht gehabt. Gerade machte sie ihren Mann sehr glücklich.

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    Sie hielten sich an den Händen und starrten auf die fluoreszierenden Sterne an Heddas Zimmerdecke. Sie waren erschöpft und verschwitzt, aber sie hatten keine Eile, ins Bad zu gehen. Lukas
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