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Bedroht

Bedroht

Titel: Bedroht
Autoren: Hans Koppel
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passe auf dich auf. Wir machen das hier zusammen.«
    Er führte sie bis an die Kante.
    »Und jetzt streckst du die Arme aus wie im Film.«
    »Ich will nicht.«
    »Streck sie aus, stell dich nicht so an.«
    Widerwillig gehorchte sie ihm.
    »Jetzt kannst du die Augen öffnen«, sagte Erik.
    Hedda hatte die ganze Zeit die Augen offen gehabt. Sie stand an der äußersten Kante auf einem Felsvorsprung. Es war bereits dunkel, aber sie sah die Wogen unten auf den Felsen explodieren und Kaskaden weißen Schaums in die Luft schleudern.
    »Ich will nicht«, sagte sie und stieß beim Zurückweichen mit Erik zusammen, der unerschütterlich stehen blieb.
    »Spürst du die Freiheit?«, sagte Erik und hielt ihre Schultern ganz fest. »Erst hier versteht man, wie alles zusammenhängt. Wie bedeutungslos alles ist. Unser kurzes Leben. Was wir tun und nicht tun. Unsere Gedanken, alles, was wir lernen, was wir erleben, unsere Gefühle. Meine Güte, unsere Gefühle. So nichtig, so unwichtig.«
    Erik drehte sie um.
    »Wir existieren nur eine kurze Zeit. Die Wogen da unten, die bestehen ewig weiter. Lange nachdem wir weg sind.«
    »Ich will hier nicht sein.«
    »Hedda. Schau mich an.«
    Sie sah ihn verängstigt an.
    »Ich rede. Ich habe etwas zu sagen.«
    »Ich will nicht.«
    »Du bist ein unbedeutendes Mädchen. Du hörst mir zu. Verstanden?«
    Sie nickte verängstigt. Erik lächelte wie ein geduldiger Lehrer, der genug geschimpft hatte und seine Schülerin wieder in die Gemeinschaft aufnahm.
    »Willst du dein Handy zurückhaben?«
    »Ja.«
    »Aber nur, wenn du schreist.«
    Hedda verstand ihn nicht.
    »Dreh dich um, schau aufs Meer und schrei. Mit aller Kraft, so laut du kannst. Schrei, als würde dein Leben davon abhängen.«
    »Ich kann nicht schreien.«
    »Du kannst nicht schreien?«
    »Nein.«
    »Deine Mama hat geschrien. Die ganze Zeit. Hier und auch an anderen Orten.«
    »Ich traue mich nicht. Bitte, ich will nicht. Ich will weg hier.«
    »Gleich darfst du gehen. Wenn du geschrien hast. Ich gebe dir dein Handy, und du darfst gehen. Wie alt bist du?«
    »Wie bitte?«
    »Du weißt doch wohl, wie alt du bist? Wie viele Jahre bist du alt?«
    Hedda begriff nicht.
    »Zehn«, sagte sie zögernd.
    »Zehn Jahre«, wiederholte Erik und nickte. »Du bist ein Kind. Ein unbedeutendes Mädchen von zehn Jahren. Weißt du, warum ich dich hierher mitgenommen habe?«
    »Ich will nicht. Ich will weg.«
    »Verstehst du, warum? Siehst du ein, wozu ich bereit bin? Zu welchem Opfer ich mich gezwungen sehe?«
    Er gab ihr eine Ohrfeige. Hedda brachte kein Wort über die Lippen. Der Schock über den Schlag verschlug ihr die Sprache. Erik kniete sich vor sie hin, strich ihr über den Kopf.
    »Das wollte ich nicht. Du …«
    Er umarmte sie fest, presste seine Wange an ihren Bauch, sah flehend zu ihr hoch.
    »Deine Mutter hat mich betrogen, meine Gutgläubigkeit ausgenutzt. Sie hat mich benutzt. Weißt du, wie das ist, wenn man ausgenutzt wird? Wenn jemand so tut, als wäre er dein Freund, ohne es zu sein? Stell dir vor, du kommst von der Schule nach Hause und deine Mutter fragt dich nicht, wie es war. Stattdessen seufzt sie gequält, als fände sie es anstrengend, dich zu sehen. Wäre das so lustig? Ich glaube kaum, dass dir das gefallen würde. So geht es mir. Genau so. Deine Mutter seufzt, wenn sie mich sieht. Anfangs war das allerdings anders. Am Anfang ist sie zu mir gekommen. In mein Hotelzimmer. In meine Wohnung in der Stadt. Da war alles anders, da konnte sie nicht genug bekommen. Dann plötzlich das Gegenteil. Ohne dass ich was gemacht hatte. Sie war es leid, bereute das Ganze.«
    Er lachte, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er mit einem Kind sprach.
    »Du weißt nicht, wovon ich spreche, oder?«
    »Ich will hier weg, ich will nach Hause. Bitte …«
    Erik nahm ihre Hand und hielt sie ganz fest.
    »Dann kam deine Oma. Auch sie wollte was von mir. Alle sind gleich und wollen was von mir. Ich soll immer für sie da sein.«
    Hedda weinte leise und atmete schluckaufartig ein.
    »Allzeit bereit«, fuhr Erik mit leerem, stierem Blick fort. »Mama sagte, ich solle froh sein. Dass alles ganz normal sei.«
    Er wiegte den Kopf hin und her, sah zu Hedda hoch.
    »Ich will, dass du mit mir hier runterspringst.«
    »Nein.«
    »Ich will, dass du deine Mutter für ihre Taten bestrafst. So wie ich die Schuld meiner Mutter beglichen habe, musst du die ihre begleichen.«
    Hedda versuchte ihren Arm wegzuziehen. Er war zu stark. Beide hörten das Geräusch und drehten
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