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Beautiful Americans 03 - Leben á la carte

Beautiful Americans 03 - Leben á la carte

Titel: Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
Autoren: Lucy Silag
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laufen schweigend vor uns hin, aber Annabel ist zappelig. Ihr neuer Trenchcoat ist nicht gerade dick. Wärmend reibt sie sich mit ihren behandschuhten Händen über die Schultern und Oberarme.
    »Pen, was machen wir hier eigentlich?«, fragt sie im Jammerton, als wir die Docks und die Molen für die vielen Tausend Schiffe erreichen. »Es ist eiskalt.«
    »Ich wollte mir nur mal die Schiffe ansehen«, antworte ich und ziehe sie an dem Schild vorbei, auf dem ACCES INTERDIT steht - ZUTRITT VERBOTEN. »Lass uns mal das große Kreuzfahrtschiff da drüben angucken.« In der Ferne ragt ein gigantisches Schiff aus dem Wasser. Es sieht fast unecht aus - wie eine Fata Morgana. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, was als Nächstes kommt, Annabel? Wie sollen wir Geld verdienen? Wie den Polizisten aus dem Weg gehen? Den Marquets?«
    »Wer soll denn hier in Cherbourg nach uns suchen? Das ist doch am Arsch der Welt«, schnaubt Annabel und zeigt auf das flache, unbefahrene Kanalwasser jenseits des Hafens.
    Sie ertrinkt geradezu in ihrem Mantel. Annabel besteht mittlerweile fast nur noch aus Haut und Knochen, ohne die weichen Linien, die sonst ihren von Natur aus schmalen Körper füllen. Wäre ich auf der Suche nach ihr, würde ich sie vielleicht nicht mal erkennen, abgesehen von dem dunklen Haar, das ihr der Wind um das Gesicht peitscht. Das würde ich immer und überall ausmachen.
    »Wir müssen uns verstecken, Annabel. Wir müssen von hier verschwinden. Verstehst du? Solange wir in Frankreich sind, können sie uns kriegen.« Ich beiße die Zähne zusammen. »Die Marquets.«
    »Und? Willst du etwa als blinder Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff mitfahren? In die Südsee schippern?«, fragt Annabel mich, aber ich antworte nicht.
    Aus ihrem Mund klingt es lächerlich und albern. Aber was dann? Warum macht sich Annabel überhaupt keine Gedanken, was aus uns werden soll?
    Auf dieser Seite der Kaianlage endet der Weg in einer Sackgasse. Um zum Kreuzfahrtschiff zu gelangen, muss man in einem großen Bogen um den Kanal herumgehen, ganz zurück bis zur Stadtmitte. »Los, komm«, sage ich. »Lass uns kehrtmachen und die Schiffe auf der anderen Seite ansehen.«
    »Warum? Was willst du denn mit diesem Kreuzfahrtschiff?«
    Wieder antworte ich ihr nicht. »Hermoso Atlántico Linea«, lese ich auf der Schiffsseite, als wir näher kommen. Die große rote geschwungene Schrift auf der weißen Steuerbordseite wirkt fröhlich trotz des grauen Wassers, in dem das Schiff kauert. Oben am Mast hängen zwei enorme Flaggen - eine blaue mit goldenen Sternen für die Europäische Union und eine blauweiß gestreifte mit einer goldenen Sonne im Zentrum. Auf jeder Seite des Kreuzfahrtschiffs gibt es bestimmt eine Million Fenster. Ein vergleichbares Schiff habe ich noch nie gesehen, außer vielleicht mal als Abbildung in einer Zeitschrift. Es ist groß. Furchterregend. Robust. Unzugänglich.
    »Wir könnten uns wirklich einfach als blinde Passagiere auf das Schiff schmuggeln«, sage ich zu meiner Schwester. »Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee. Es werden andauernd Dokumente gefälscht. Mein Freund Jay zum Beispiel hat Angehörige in den USA, die mit gefälschten Pässen ins Land gekommen sind. So schwer kann das nicht sein.«
    Annabel rümpft die Nase. »Ich mag Schiffe nicht besonders.«
    »Im Moment geht es nicht darum, was dir gefällt oder nicht«, sage ich. »Annabel, verstehst du denn nicht, dass wir von hier verschwinden müssen, weg aus Frankreich, weg von all den Orten, an denen uns jemand finden kann?«
    Annabel nimmt meine Hand. »Alles wird gut, Penny Lane. Alles wird sich fügen, du wirst schon sehen.« Sie lächelt mich mit strahlenden Augen an.
    »Wie kannst du nur so ruhig sein? Das Ganze ist wirklich ernst, Annabel, und du bist diejenige, die mich in den Schlamassel reingeritten hat.«
    »Also, ich habe dir nicht gesagt, dass du diesen Kerl zu Boden schlagen sollst«, entgegnet sie mit gesenkter Stimme und ohne mich anzublicken. »Das ist das einzig wirklich Schlimme, was passiert ist. Und das war nicht meine Schuld.«
    »Sei still, Annabel«, flüstere ich mit Tränen in den Augen. »Fang nicht wieder damit an.«
    Annabel wendet sich von mir ab. »Ich gehe zurück ins Hostel.«
    Diesmal laufe ich ihr ausnahmsweise nicht hinterher. Ich starre auf die spanischen Worte an der Seite des Kreuzfahrtschiffs und denke an den einzigen Menschen, der mir jetzt vielleicht noch helfen könnte: Jay.
     
    ***
    Als die Sonne untergeht,
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