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BE (German Edition)

BE (German Edition)

Titel: BE (German Edition)
Autoren: Katja Eichinger
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Unterdrückung. Nun sollte man annehmen, dass Bernd so etwas nicht schreiben könnte, da er von Putzen und Kochen keine Ahnung hatte und es als Sieg seines Koordinationsvermögens ansah, wenn er mal die Spaghettisoße umrührte. Aber da lag ich völlig falsch. Offensichtlich hatte er, wenn ich kochte und er Wein trinkend daneben saß, sehr genau zugeschaut. Und sehr genau zugehört, wenn die Haushälterin und ich eine kleine Meinungsverschiedenheit hatten. All das war auf überspitzte Weise im Drehbuch zum Wahnsinn eskaliert. Es war das Grauen, von dem wir immer annehmen, dass es hinter den Spießerhecken der grauen Vorstädte lauert und von dem wir dann doch schockiert sind, wenn es sich als real erweist. Bernds Drehbuch war wild und mit großer Kraft geschrieben. Mit all der Kraft, die er noch übrig hatte.

Im Ende liegt der Anfang
    DE r Mann, der solche Höhenangst hatte, dass er nicht einmal eine Leiter hinaufklettern konnte und der die Fortbewegung zu Fuß so weit wie möglich vermied, dieser Mann verbrachte also sein Leben damit, immer wieder alleine auf einen Achttausender zu steigen. Wenn man sich das bewusst macht, erfährt man etwas von der Anstrengung, die es Bernd gekostet haben muss, seine Filme zu drehen. Man versteht auch, warum er alle Bücher von Reinhold Messner gelesen hatte. Da war einer, der ging in seinen Augen noch viel weiter als er. Der schaute in tatsächliche Abgründe, nicht nur in die Abgründe seiner Seele. Der setzte tatsächlich sein Leben aufs Spiel. Wie es sich herausstellen sollte, hat auch Bernd sein Leben gewagt. Er ist dabei gestorben. Nach Bernds Tod wird einem deutlich, was auch Dieter Kosslick in seinem Nachruf schrieb: Der Achttausender, den Bernd da immer bestiegen hat, der war er selbst. Achttausender verschwinden nicht einfach so.
    Die echte Befriedigung, so Freud, besteht darin, nach der eigenen Fasson zu sterben. Genau das hat Bernd getan. Ja, man kann sagen: Die viele Arbeit, die permanente Anspannung, die Unmengen an Alkohol, die langen Nächte, das jahrelange Rauchen, all das war selbstzerstörerisch. Aber jemanden als selbstzerstörerisch zu bezeichnen, bedeutet ja anzunehmen, dass man besser weiß, was für denjenigen gut ist als er selbst. Die Geschichten unseres Lebens sind Geschichten vom Sterben. Bernd hat genau so gelebt und ist gemäß dieser Logik auch so gestorben, wie er das wollte. Ich kenne keinen anderen Menschen, der so konsequent seinen Willen gelebt hat wie Bernd.
    In der Woche vor Bernds Tod lagen wir nebeneinander im Bett und lasen. Ich las ihm einen Satz von Lacan vor, der mir großartig erschien: »Ich begehre also bin ich.« Bernd überlegte einen Moment. »Nein, das stimmt nicht!«, entgegnete er schließlich, fast schon empört. »Ich bin total zufrieden und glücklich. Ich hab dich, ich hab meine Arbeit, mein Leben ist so wie es ist … es gibt nichts, wonach ich mich sehne, das ich nicht schon habe.« Kino ist die Industrie des Begehrens. Kino ist sowohl Motor als auch Spiegel für unsere Begierden. Bernd war ein Großindustrieller des Begehrens. Er war der Verführer, der allein in Deutschland neunzig Millionen Menschen ins Kino gelockt hat. Um zu verführen, muss man selbst begehren, muss das Loch im Herzen kennen, das wir alle versuchen mit Träumen zu füllen. Nun war der große Verführer an einem Punkt der absoluten Zufriedenheit angekommen. Er begehrte nichts mehr. Heute, fast anderthalb Jahre nach seinem plötzlichen Tod, da das Trauma seines Verlusts relativierbar geworden ist, kann ich sagen: Bernd hat die Party verlassen, als sie am besten war.
    Am Tag vor Bernds Tod saßen wir in der gleißenden Mittagssonne Kaliforniens und redeten über Platons Höhlengleichnis. Also über die Vorstellung, das menschliche Bewusstsein so zu beschreiben, dass wir in einer Höhle an eine Wand gefesselt sind. Alles, was wir sehen können, ist der Lichteinfall auf der gegenüberliegenden Wand und die Schatten der Dinge und Menschen, die vor dem Höhleneingang vorbeiziehen. Und weil wir uns nicht bewegen können, ist diese Reflexion, dieses Schattenspiel, unsere Realität. Unsere Aufgabe im Leben besteht darin, uns von den Fesseln zu lösen und den beschwerlichen Weg zum Höhlenausgang zu wagen, um den Ursprung der Schatten zu sehen. Die wahren Formen, nicht nur deren Reflexion zu erkennen. Nur so können wir wahres Wissen, wahre Liebe, das wahre ερως erfahren.
    Es war so hell an diesem Tag in Kalifornien, der Himmel so blau und die Sonne so
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