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Baustelle Demokratie

Baustelle Demokratie

Titel: Baustelle Demokratie
Autoren: Serge Embacher
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Planung wurde dadurch erst recht befeuert. Nach Jahren des Protests, auf den die offizielle Politik nicht oder nur unzureichend reagierte, kam es dann mit Baubeginn 2010 zu massivem Widerstand gegen den Bahnhofsneubau.
    Die Politik musste jetzt auf den öffentlichen Protest reagieren. Hätte man von Anfang den Bürgerwillen einbezogen und beispielsweise an den Anfang des Planungsverfahrens eine Volksabstimmung gesetzt, hätte man sich viele Umwege und Mehrkosten ersparen können, was ja dadurch bewiesen wurde, dass die am Ende doch noch durchgeführte Volksabstimmung für »Stuttgart 21« endete. Es ist diese typische – und völlig unbegründete – Angst vor Volkes Willen, die die Politik immer wieder dazu treibt, bei der Planung von Großprojekten Alleingänge unter »Experten« zu unternehmen. Das Muster ist immer dasselbe:
Eine relevante Mitbestimmung von engagierten Bürgern bei Stadtplanungs- und anderen Projekten wird (oft kategorisch) mit Hinweis auf die repräsentative Demokratie abgelehnt,
Kostenschätzungen fallen immer zu niedrig aus und werden dann zulasten der Steuerzahlenden im Nachhinein, das heißt nach der Entscheidung für ein Projekt, nach oben korrigiert,
die Akteure machen Zusagen, mit denen sie den Betroffenen scheinbar entgegenkommen, an die sie sich aber im Zweifelsfall nicht gebunden fühlen,
Proteste gegen Großprojekte werden als »Angstkampagnen« und »realitätsfern« gebrandmarkt,
die offiziellen Akteure ziehen sich auf formale und juristische Argumente zurück.
    Dieses Verhaltensmuster, das einen Staat zeigt, der sich regelrecht vor seinen Bürgern fürchtet, wiederholt sich in Varianten immer wieder, sei es beim Streit um An- und Abflugrouten am neuen Hauptstadtflughafen Berlin Brandenburg International oder an vielen anderen Stellen. Statt die engagierte Bürgergesellschaft in Planungsprozesse einzubeziehen, sucht man stets nach Mitteln und Wegen, ohne Beteiligung auszukommen. Besonders schwierig für das Vertrauen in die Politik und ihre Akteure sind jene Situationen, in denen man zwar Beteiligung zugelassen hat, sich anschließend aber nicht daran gebunden fühlt.
    So geschehen in Frankfurt am Main, wo man sich in einem umfassenden und vorbildlich moderierten Beteiligungsverfahren auf den Ausbau des Flughafens unter der Bedingung eines strikten Nachtflugverbots geeinigt hatte. Nach Fertigstellung der neuen Start- und Landebahn hieß es dann von Seiten der Flughafenbetreiber, ein Nachtflugverbot schädige den »Standort Flughafen« und könne daher nicht realisiert werden. Die vom Fluglärm Betroffenen hatten der Planung aber genau unter der zentralen Bedingung eines Nachtflugverbots zugestimmt. Wer so etwas erlebt hat, wird den Planungen und Zusagen der öffentlichen Hand niemals wieder vertrauen.
    Immer stärker zeigt sich, dass das sprichwörtlich gewordene »Durchregieren« heute im Grunde aussichtslos ist. Hierarchische Vorstellungen von Politik kollidieren mehr und mehr mit einem gesteigerten bürgergesellschaftlichen Selbstbewusstsein. Und mag das auch für machtbewusste Politiker und profitfixierte Investoren eine schwierige Nachricht sein, für die Demokratie ist es eine gute. Aus dieser Situation lässt sich vernünftigerweise nur der Schluss ziehen, nicht länger zu zögern und über »proaktive« Strategien zum Ausbau der Bürgerbeteiligung nachzudenken. Durch Demonstrationen und öffentlichen Protest erzwungene Beteiligung erzeugt – wenngleich besser als keine Beteiligung – letztlich nur negative Energien auf allen Seiten. Die Beteiligten leben in einer Kultur wechselseitigen Misstrauens. Selbstverständliche und klar geregelte Beteiligung bedeutet hingegen vor allem für die Politik selbst einige Vorteile. Sie kann von der Kompetenz und dem Wissen von vielen Einzelnen profitieren, sie kann sich ein genaueres Bild davon machen, was Betroffene wollen, und sie kann sicher sein, dass mit umfassender Bürgerbeteiligung eine erhebliche Akzeptanzsteigerung verbunden ist.
    Eine politische Kultur der Bürgerbeteiligung – und nichts weniger ist heute gefordert – steht noch ganz am Anfang. Sie erfordert von allen Seiten Zugeständnisse: Die Politik in Regierungen und Parlamenten muss Macht und Kontrolle abgeben; Engagierte müssen mit Abstimmungsergebnissen leben; und alle gemeinsam müssen wir lernen, dass die Demokratie auf Dauer beschädigt wird, wenn man den freien öffentlichen Diskurs nicht als Normalfall des demokratischen Streits akzeptiert und
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