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Baustelle Demokratie

Baustelle Demokratie

Titel: Baustelle Demokratie
Autoren: Serge Embacher
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zur Rückeroberung des Primats der Politik gegenüber »den Märkten« zu bringen, ist Aufgabe der Bürgergesellschaft. Nur sie kann die Politik zu alternativen Wegen ermächtigen.
    Das glauben Sie immer noch nicht? Wie konnte es dann, Ihrer Meinung nach, zu einem Konsens über den Ausstieg aus der Kernenergie kommen? Wie konnte sich überhaupt jemals eine sozialstaatliche Politik durchsetzen? Was glauben Sie, wie Verbraucherschutz und Datensicherheit zu politischen Themen wurden, die heute kein Entscheidungsträger in der Politik mehr ignorieren kann? Im Grunde ist es ganz einfach und immer wieder dasselbe: Der Druck aus der engagierten Bürgerschaft, dieses erst so zarte, von Wasserwerfern und Polizeieinsätzen bedrohte Pflänzchen, hat im Laufe der Zeit eine so große Wirkungsmächtigkeit erlangt, die die Politik veränderte. Wir sind – und das macht unsere Zeit voller Irrungen und Orientierungsprobleme so spannend – mitten in einer neuen Phase der Aufklärung und damit der Vorstellungen vom Gemeinwesen. Wir lernen stetig dazu und wissen mittlerweile, wie naiv es war, die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Politik in Parlamenten und Regierungen zu überlassen. Der Sieg des Parlamentarismus über feudale Herrscher und Diktatoren (auch diese Phase ist ja weltweit noch keineswegs abgeschlossen!) war bei aller historischen Sensation erst der Anfang der gesellschaftlichen Demokratisierung. Heute ist klar, dass demokratische Politik nicht erst hinter den Türen des Parlaments beginnt, auch wenn das Parlament und das Prinzip der Repräsentation nach wie vor die zentralen Säulen der Politik darstellen. Wir brauchen eine alerte, hellwache Bürgergesellschaft, die auf allen relevanten Themenfeldern präsent ist und als Seismografin, Antreiberin und Bündnispartnerin für die verfasste Politik fungiert.
    Die zentrale gesellschaftspolitische Funktion des Engagements ist die eines Korrektivs politischer und ökonomischer Imperative. Das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft muss im Lichte dieser Betrachtungen neu gedacht und konzipiert werden (vgl. zum Folgenden Embacher / Roth 2010, 14ff.). Es geht um einen »neuen Gesellschaftsvertrag« – dies in dem Sinne, dass wir, wenn aus der »Baustelle Demokratie« tatsächlich ein renoviertes Gebäude hervorgehen soll, die hergebrachte Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen den Sektoren überdenken und verändern müssen. Der Staat muss neue Formen und Institutionen der politischen Beteiligung schaffen, die zu einer weitergehenden Demokratisierung beitragen. Das bedeutet, neue Motive (ökologische Themen, globale Gerechtigkeit, Geschlechtergleichstellung usw.) sowie praktische Anstöße (projektorientierte Beteiligung mit starken Selbstgestaltungsansprüchen, Politik jenseits der üblichen Lager usw.) in den zentralen politischen Institutionen zur Geltung zu bringen und diese damit zu erneuern. In Deutschland ist die Nutzung neuer demokratischer Ressourcen bisher kaum gelungen. Das gesellschaftliche Engagement in Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, das seit den 1960er-Jahren kontinuierlich angestiegen ist, findet in der staatlichen Wahrnehmung noch immer allenfalls am Rande Beachtung. Allerdings gibt es – das Beispiel Baden-Württemberg wurde genannt – auch immer mehr bemerkenswerte Ausnahmen für einen Einstellungswechsel in Staat und Politik. Die Ausbreitung und verstärkte Nutzung direktdemokratischer Verfahren (Bürgerbegehren, Bürgerentscheide etc.) vor allem auf kommunaler Ebene sind dafür ein deutliches Indiz. Dieser Einstellungswechsel ist unumgänglich: Die Auseinandersetzung der Politik mit offensiv auf den eigenen Vorteil gerichteten Wirtschaftsakteuren erfordert machtpolitische Legitimation »von unten«. Die Kompetenz und der Einfluss von bürgergesellschaftlichen Organisationen wie Verbraucherschutzorganisationen, Umweltverbänden und Menschenrechtsassoziationen können in öffentlichen Aushandlungsprozessen eine tragende Rolle spielen. Sie »ermächtigen« Politik zur Regulierung ökonomischer Prozesse in gesellschaftlichem Interesse.
    Die Rolle der Wirtschaft schließt direkt an die staatliche Rolle an. Zunächst ist sie davon geprägt, dass Politik und Staat und eine partizipierende Bürgergesellschaft die unternehmerische Sphäre überall dort begrenzen müssen, wo dies nötig ist, zum Beispiel gegen Monopolbildungen, unfaire Arbeitsbedingungen und weitere
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