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Bauernsalat

Bauernsalat

Titel: Bauernsalat
Autoren: Kathrin Heinrichs
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Reinekes Stimme überschlug sich beinah. Wie ein Wahnsinniger schmiß er jetzt einzelne Blätter aus den Fächern heraus.
    »Und das obwohl meine Schwester im Sterben lag, im Sterben, verstehen Sie das? Aber ich habe alles aufgeschrieben. Gleich zeige ich Ihnen den Zettel und dann können Sie selbst sehen, wie rechtmäßig das war.« Alexa und ich standen völlig hilflos neben Reineke und wußten nicht, was wir tun sollten.
    »Herr Reineke, lassen Sie es gut sein!« Wir fuhren alle herum. Max stand plötzlich im Raum, mein alter Freund Max. Er mußte von der Gästetoilette gekommen sein. Wahrscheinlich ebenfalls durchs Fenster. Reineke reagierte als erster. Er holte aus und warf seine Luftpumpe mit voller Wucht auf den Eindringling. Dann nahm er einen gläsernen Briefbeschwerer vom Schreibtisch und schmetterte ihn hinterher. Im selben Augenblick hechtete er zur Terrassentür und floh nach draußen. Alexa und ich standen noch immer wie gelähmt da.
    »Vincent«, schrie Alexa plötzlich. »Tu doch was!«
    Ich dachte nicht nach, sondern rannte hinterher. Als ich um die Hausecke stürmte, sah ich gerade noch, wie Reineke sich auf sein Fahrrad schwang und losfuhr. Eine hundertstel Sekunde lang, dachte ich daran, zum Auto zu laufen, doch im nächsten Moment realisierte ich, daß ich damit keine Chance hatte, wenn Reineke querfeldein fuhr. Ich sah hektisch um mich. Angelehnt an das Haus nebenan standen die beiden Mountainbikes der Nachbarjungs. Sie waren nicht abgeschlossen. Ich schnappte mir das erstbeste und nahm die Verfolgung auf.
    »Vincent!«, hörte ich dann noch Alexas Stimme angstvoll rufen, während ich schon in die Pedalen trat ’Frauen’, dachte ich nur noch. Die wissen auch nicht, was sie wollen. Den Helden oder den Softi.
    Reineke legte ein beachtliches Tempo vor. Kein Wunder, wenn er das Fahrrad von Kindesbeinen an gewohnt war. Wahrscheinlich war das Fahrrad in seinen wahnhaften Kindheitserinnerungen zum Symbol seines Lebens geworden. Ich selbst kam mit dem hoch technisierten Rad der Jungs nur mäßig zurecht. Es war ein schwerer Gang eingestellt, und ich raffte die Funktion der Gangschaltung nicht oder nahm mir keine Zeit, einen Blick darauf zu werfen. Folglich fühlten sich meine Beine inzwischen an, als hätte ich Metall in die Oberschenkel implantiert bekommen. Wie ich vermutet hatte, bog Reineke plötzlich nach rechts von der Straße auf einen Feldweg ab. Er warf einen Blick nach hinten und sah mit entsetztem Blick, daß ich ihm folgte. Auf dem Feldweg stellte sich ein weiteres Problem ein. Wir ließen jetzt die Straßenlampen hinter uns. Je weiter wir uns von der Straße entfernten, desto düsterer würde es werden. Immerhin erkannte ich einen Vorteil. Der Weg wurde holpriger. Da war ich mit meinem Mountainbike schlichtweg besser dran. Was die Geschwindigkeit anging, so hielten wir ungefähr dasselbe Level. Es gelang mir nicht, den Abstand zwischen uns zu verkürzen. Doch Reineke schaffte es ebenso wenig mich abzuhängen. Jetzt bog Reineke ein weiteres Mal nach rechts ab. Als ich ebenfalls die Kurve nahm, merkte ich, daß der Untergrund hier noch viel schlechter war. Der Weg war steinig und voller Schlaglöcher, auf dem Mittelstreifen wuchs kniehoch das Gras. Dabei zeigte sich ein leichtes Gefälle. Reineke gelang es, das Tempo zu erhöhen. Doch ich profitierte nun von dem geeigneteren Fahrrad. Ich konnte bergab ebenfalls beschleunigen und hatte zudem den Vorteil, daß ich mich in der Dunkelheit an Reineke orientieren konnte. Er jedoch konnte den Weg vor sich bestenfalls noch ahnen. Es gelang mir, den Abstand von acht auf höchstens sechs Meter zu verkürzen. Reineke sah sich ein weiteres Mal um. Ich konnte sein Gesicht kaum erkennen, die Bewegung seines Kopfes aber hatte ich wahrgenommen. Weiter rasten wir den Weg entlang. Immer noch profitierten wir von leichtem Gefälle. ’Nur nicht fallen!’ kam es mir immer wieder in den Sinn. Bei einem Sturz würde mir nicht nur Reineke auf Nimmerwiedersehen entkommen. Der eine oder andere Knochenbruch würde unvermeidlich sein, so schätzte ich. Reineke versuchte noch einmal, sein Tempo zu erhöhen. Er trampelte den Hang herunter wie ein Verrückter. Wahrscheinlich war er tatsächlich verrückt.
    Ich selbst legte ebenfalls zu. Meine Oberschenkel schmerzten inzwischen wie der Teufel, doch die Tatsache, daß ich mich Reineke weiter nähern konnte, gab mir neue Kraft. Irgendwann ist auch die schönste Abfahrt zu Ende – alte Radfahrerweisheit. Reineke schien
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