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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino
Autoren: Umberto Eco
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das habe ich begriffen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Danke, dass du mir geholfen hast, dahin zu gelangen, wo ich nun bin.«
     
    Niketas ging ihn jeden Tag besuchen, Baudolino grüßte mit einer Handbewegung und schwieg. Nach einiger Zeit bemerkte Niketas, dass es nicht mehr nötig war, ihm Essen zu bringen, denn in Selymbria hatte es sich herumgesprochen, dass nach Jahrhunderten wieder ein Heiliger auf der Säule lebte, und jeder ging hin, um sich darunter zu bekreuzigen und etwas zu essen oder zu trinken in den Korb zu tun. Baudolino zog dann den Korb zu sich herauf, behielt das wenige, was ihm für den Tag genügte, und verteilte den Rest an die zahlreichen Vögel, die sich auf seiner Balustrade niedergelassen hatten. Er interessierte sich nur für sie.
     
    Den ganzen Sommer blieb Baudolino dort oben, ohne ein Wort zu sprechen, verbrannt von der Sonne und, obwohl er sich oft in den Pavillon zurückzog, von der Hitze gemartert. Sein Bedürfnis verrichtete er nachts über die Balustrade, und am nächsten Morgen sah man die Exkremente am Fuß der Säule, klein wie Ziegenköttel. Sein Bart und seine Haare wuchsen immer länger, und er war so schmutzig, dass man es von unten sehen und langsam auch riechen konnte.
    Zweimal musste sich Niketas aus Selymbria fortbegeben. In Konstantinopel war Balduin von Flandern zum Basileus ernannt worden, und die Lateiner besetzten allmählich das ganze Reich, aber Niketas musste sich um seine Besitzungen kümmern. Unterdessen bildete sich in Nikäa das letzte Bollwerk des Byzantinischen Reiches, und Niketas erwog, sich dorthin zu begeben, wo man einen Berater mit seinerErfahrung gut gebrauchen könnte. Daher musste er Kontakte knüpfen und diese neue, höchst gefahrvolle Reise vorbereiten.
    Jedes Mal, wenn er zurückkam, sah er eine dichtere Menge zu Füßen der Säule. Jemand war auf den Gedanken gekommen, dass ein Säulenheiliger, der durch sein fortwährendes Opfer zu solcher Reinheit gelangt war, auch eine tiefe Weisheit haben müsste. Also stieg er mit Hilfe einer Leiter zu ihm hinauf, um Rat und Trost von ihm zu erbitten. Er erzählte ihm von seinem Unglück, und Baudolino antwortete zum Beispiel: »Bist du stolz, so bist du der Teufel. Bist du traurig, so bist du sein Sohn. Und sorgst du dich um tausend Dinge, so bist du sein nimmermüder Diener.«
    Ein anderer erbat seinen Rat, wie er einen Streit mit seinem Nachbarn beenden könnte. Darauf Baudolino: »Sei wie ein Kamel: Trage die Last deiner Sünden und folge den Schritten dessen, der die Wege des Herrn kennt.«
    Wieder ein anderer sagte ihm, seine Schwiegertochter könne kein Kind bekommen. Und Baudolino: »Alles, was ein Mensch denken kann über die Dinge unter dem Himmel und die Dinge über dem Himmel, ist müßig. Nur wer im Gedächtnis Christi verharrt, ist in der Wahrheit.«
    »Wie weise er ist«, sagten die Frager, ließen ihm ein paar Münzen da und gingen getröstet nach Hause.
     
    Es kam der Winter, und Baudolino hockte fast immer zusammengekauert im Pavillon. Um sich nicht lange Geschichten von seinen Besuchern anhören zu müssen, fing er an, sie zu antizipieren. »Du liebst eine Person von ganzem Herzen, aber manchmal kommen dir Zweifel, ob diese Person dich ebenso liebt«, sagte er etwa. Und der Besucher: »Wie wahr das ist! Du hast in meiner Seele gelesen wie in einem aufgeschlagenen Buch! Was muss ich tun?« Und Baudolino: »Schweige, und miss dich nicht selber.«
    Zu einem dicken Mann, der als nächster kam und schnaufend hinaufgestiegen war, sagte er: »Du wachst jeden Morgen mit Halsschmerzen auf und hast Mühe, dir die Schuhe anzuziehen.« – »So ist es«, sagte der Dickebewundernd. Und Baudolino: »Iss drei Tage lang nichts. Aber werde nicht stolz auf dein Fasten. Bevor du stolz darauf wirst, iss lieber ein Stück Fleisch. Es ist besser, Fleisch zu essen, als sich zu brüsten. Und nimm deine Leiden als Strafe für deine Sünden.«
    Ein Vater kam und sagte, sein Sohn sei mit Schwären bedeckt. Ihm antwortete Baudolino: »Wasch ihn dreimal am Tag mit Wasser und Salz und sprich dazu die Worte: Jungfrau Hypatia, sorge für deinen Sohn.« Der Mann ging, kam nach einer Woche wieder und sagte, die Schwären seien dabei zu verheilen. Er gab ihm Münzen, eine Taube und eine Flasche Wein. Alle verwunderten sich sehr, und wer krank war, ging in die Kirche und betete: »Jungfrau Hypatia, sorge für deinen Sohn.«
    Ein schlechtgekleideter Mann mit düsterem Blick kam die Leiter heraufgestiegen. Baudolino
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