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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino
Autoren: Umberto Eco
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Leben lang in der Lüge gelebt, ich will sterben, ich will zur Hölle fahren und in Ewigkeit leiden ...«
    Es war nutzlos, ihn beruhigen zu wollen, und man konnte nichts tun, um ihn zu heilen. Niketas ließ Theophilattos einen Schlaftee bereiten und flößte ihn ihm ein. Kurz darauf schlief Baudolino den unruhigsten Schlaf seines Lebens.
     
    Als er am nächsten Tag wieder erwachte, lehnte er eine Tasse heiße Brühe ab, die ihm gebracht wurde, und ging wortlos hinaus in den Garten, setzte sich unter einen Baum und verharrte dort schweigend, den Kopf in die Hände gestützt, den ganzen Tag lang, und am nächsten Morgen saß er immer noch da. Niketas kam zu dem Schluss, dass in solchen Fällen das beste Heilmittel Wein sei, und brachte ihn dazu, im Überfluss davon zu trinken. Baudolino blieb in einem Zustand anhaltender Starre drei Tage und drei Nächte unter dem Baum.
    Am Morgen des vierten Tages kam Niketas, um wie üblich nach ihm zu sehen, und fand ihn nicht mehr. Er durchsuchte den Garten und das Haus, aber Baudolino war verschwunden. Schon fürchtend, er könnte beschlossen haben, eine Verzweiflungstat zu begehen, schickte Niketas den getreuen Theophilattos und seine beiden Söhne aus, in ganz Selymbria und Umgebung nach ihm zu suchen. Zwei Stunden später kamen sie zurück und riefen Niketas, er solle rasch kommen und sehen. Sie führten ihn zu jenem offenen Platz am Stadtrand, auf dem die Eremitensäule stand, die sie bei ihrer Ankunft aus Konstantinopel gesehen hatten.
    Eine Gruppe Neugieriger hatte sich um die Säule geschart und zeigte hinauf. Die Säule war aus weißem Stein, etwa so hoch wie ein zweistöckiges Haus. Oben verbreiterte sie sich zu einer quadratischen Plattform mit einer Balustrade aus kleinen Säulen in weiten Abständen und einem Handlauf darüber, ebenfalls aus Stein. In der Mitte der Plattform erhob sich ein kleiner Pavillon. Alles dortoben war sehr eng, um auf der Plattform sitzen zu können, musste man die Beine herunterbaumeln lassen, und in dem Pavillon war allenfalls Platz für einen zusammengekauerten Mann. Dort oben saß, die Beine draußen, Baudolino, und man sah, dass er splitternackt war.
    Niketas rief ihn an, schrie hinauf, er solle herunterkommen, versuchte die kleine Tür am Fuß der Säule zu öffnen, hinter der, wie in all diesen Bauwerken, eine Wendeltreppe zur Plattform hinaufführte. Aber die Tür war, obwohl nicht ganz geschlossen, von innen verbarrikadiert.
    »Komm runter, Baudolino, was willst du da oben?« Baudolino antwortete etwas, aber Niketas konnte es nicht verstehen. Er bat die Umstehenden, ihm eine ausreichend lange Leiter zu holen. Sie kam, er kletterte mühsam hinauf und fand sich mit dem Kopf auf der Höhe von Baudolinos Füßen. »Was willst du hier oben?« fragte er noch einmal.
    »Hierbleiben. Jetzt beginnt meine Buße. Ich werde beten, meditieren, mich in Schweigen auflösen. Ich werde versuchen, die Einsamkeit fernab von jeder Meinung und Vorstellung zu erreichen, weder Zorn noch Begierde mehr zu empfinden, auch nicht mehr zu räsonieren und nichts mehr zu denken, mich aus allen Bindungen zu lösen, zurückzukehren zum absolut Einfachen, um nichts mehr zu sehen außer dem Glorienschein der Dunkelheit. Ich werde mich der Seele und des Verstandes begeben, ich werde über das Reich des Geistes hinausgelangen, ich werde im Dunkeln meine Bahn auf den Wegen des Feuers vollenden ...«
    Niketas machte sich klar, dass er Dinge wiederholte, die er von Hypatia gehört hatte. So restlos will dieser Unglückliche jede Leidenschaft fliehen, dachte er, dass er sich hier oben isoliert, im Versuch, derjenigen, die er immer noch liebt, gleich zu werden. Aber das sagte er ihm nicht. Er fragte ihn nur, wie er zu überleben gedachte.
    »Du hast mir doch erzählt, dass die Eremiten einen Korb an einem Seil hinunterließen«, sagte Baudolino, »und da haben die Gläubigen ihre Essensreste hineingetan und besser noch die ihrer Tiere. Und dazu ein bisschen Wasser, obwohl man auch Durst leiden und warten kann, bis es dann und wann regnet.«
    Niketas seufzte, stieg hinunter, ließ einen Korb mit einem Seil holen und Brot, gekochtes Gemüse, Oliven und ein Stück Fleisch hineintun. Einer von Theophilattos' Söhnen warf das Seil hinauf, Baudolino fing es und zog den Korb zu sich empor. Er nahm nur das Brot und die Oliven, das übrige gab er zurück. »Jetzt lass mich bitte«, rief er zu Niketas hinunter. »Was ich begreifen wollte, während ich dir meine Geschichte erzählte,
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