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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino
Autoren: Umberto Eco
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sagte zu ihm: »Ich weiß, was du hast. Du trägst Groll auf jemanden in deinem Herzen.«
    »Du weißt alles«, sagte der Mann.
    Baudolino fuhr fort: »Wenn jemand Böses mit Bösem vergelten will, kann er einen Bruder auch mit einem bloßen Wink verletzen. Halte die Hände immer hinter dem Rücken.«
    Es kam einer mit traurigen Augen und sagte: »Ich weiß nicht, welches Übel ich habe.«
    »Ich weiß es«, sagte Baudolino. »Du bist träge.«
    »Wie kann ich gesund werden?«
    »Die Trägheit zeigt sich das erste Mal, wenn man bemerkt, mit welch extremer Langsamkeit sich die Sonne bewegt.«
    »Und was tut man dagegen?«
    »Schau nie in die Sonne.«
    »Man kann ihm nichts verbergen«, sagten die Leute von Selymbria.
    »Wie kommt es, dass du so weise bist?« fragte ihn einer. Und Baudolino: »Weil ich mich verstecke.«
    »Wie kannst du dich verstecken?«
    Baudolino streckte ihm eine geöffnete Hand entgegen. »Was siehst du vor dir?« fragte er. »Eine Hand«, sagte der andere.
    »Siehst du, ich kann mich gut verstecken«, sagte Baudolino.
     
    Der Frühling kam wieder. Baudolino wurde immer schmutziger und struppiger. Außerdem war er von Vögeln bedeckt, die in Scharen geflogen kamen und die Würmer aufpickten, die inzwischen auf seinem Körper lebten. Da er alle diese Geschöpfe ernähren musste, füllten die Leute ihm mehrmals am Tag seinen Korb.
    Eines Morgens kam ein Ritter, erschöpft und staubbedeckt. Er sagte ihm, ein adliger Herr habe während einer Jagdpartie einen Pfeil schlecht abgeschossen und den Sohn seiner Schwester getroffen. Der Pfeil sei in ein Auge eingedrungen und im Nacken herausgekommen. Der Knabe atme noch, und der Herr bitte Baudolino, alles zu tun, was ein Gottesmann tun könne.
    Baudolino sagte: »Aufgabe des Säulenheiligen ist es, die eigenen Gedanken aus der Ferne eintreffen zu sehen. Ich wusste, dass du kommen würdest, aber du hast zu viel Zeit gebraucht, und ebenso lange wirst du für deine Rückkehr brauchen. Die Dinge laufen auf dieser Welt, wie sie laufen müssen. Wisse, dass der Knabe gerade stirbt, ja, dass er jetzt in diesem Augenblick schon gestorben ist, Gott erbarme sich seiner.«
    Der Ritter kehrte zurück, und der Knabe war bereits tot. Als sich die Nachricht herumsprach, riefen viele in Selymbria, Baudolino habe die Gabe der Hellseherei und habe gesehen, was viele Meilen entfernt geschah. Unweit der Säule stand jedoch die Kirche des heiligen Mardonios, deren Priester Baudolino hasste, weil er ihm seit Monaten die milden Gaben seiner einstigen Schäfchen entzog. Der fing nun an zu sagen, das sei ja ein schönes Wunder gewesen, was Baudolino da vollbracht habe, und solche Wunder könne ein jeder vollbringen. Er ging unter die Säule und rief zu Baudolino hinauf, wenn ein Säulenheiliger noch nicht einmal in der Lage sei, einem Jungen einen Pfeil aus dem Auge zu ziehen, dann sei das genauso, als wenn er den Jungen umgebracht habe.
    Baudolino erwiderte: »Das Bestreben, den Menschen gefällig zu sein, lässt jede geistige Blüte verwelken.«
    Der Priester warf einen Stein nach ihm, und sofort liefen einige Exaltierte zusammen und schleuderten ebenfalls Steine und Erdklumpen nach der Plattform. Sie warfen den ganzen Tag lang weiter, während Baudolino zusammengekauert in seinem Pavillon hockte und sich die Hände vor das Gesicht hielt. Erst als es dunkel wurde, trollten sie sich.
     
    Am nächsten Morgen kam Niketas, um nach seinem Freund zu sehen, und fand ihn nicht mehr. Die Säule war verwaist. Besorgt kehrte er nach Hause zurück und entdeckte Baudolino in Theophilattos' Stall. Er hatte sich eine Wanne mit Wasser gefüllt und war dabei, sich mit einem Messer den ganzen Dreck abzuschaben, der sich auf ihm angesammelt hatte. Er hatte sich, so gut es ging, den Bart und die Haare geschnitten. Er war braungebrannt von Sonne und Wind, schien nicht zu sehr abgemagert, hatte nur etwas Mühe, aufrecht zu stehen, und bewegte Arme und Schultern, um die steifen Rückenmuskeln zu lockern.
    »Hast du gesehen? Das einzige Mal in meinem Leben, dass ich die Wahrheit und nur die Wahrheit gesagt habe, haben sie mich beinahe gesteinigt.«
    »Das ist auch den Aposteln passiert. Du warst ein Heiliger geworden und lässt dich so schnell entmutigen?«
    »Vielleicht hatte ich ein Zeichen vom Himmel erwartet. In den letzten Monaten haben sich etliche Münzen bei mir angesammelt. Ich habe einen der Söhne von Theophilattos gebeten, mir Kleider, ein Pferd und ein Maultier zu kaufen. Irgendwo im Hause
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