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Batmans Schoenheit

Batmans Schoenheit

Titel: Batmans Schoenheit
Autoren: Heinrich Steinfest
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gütiger und weiser Arzt ein Attest in der Art einer Befreiung vom Turnunterricht ausgestellt und dabei die nicht ganz unlogische Meinung vertreten hatte, daß ein Kind, das ohnehin schon perfekt Englisch erlernt habe, es nicht noch einmal zu erlernen brauche, nach dieser medizinischen und menschlichen Einsicht also wurde für Ernst von der nicht minder einsichtigen Schulleitung eine unbürokratische Speziallösung geschaffen. Man sagte sich wohl: Lieber ein Englischschüler weniger als ein Stotterer mehr. Eine Einstellung, die für Ernst einen weiteren Beweis darstellte, inwieweit die alte Welt die bessere war. Und Hamburg sowieso.
    Als er acht Jahre später sein Abitur machte, war es bloß noch sein Familienname, der daran erinnerte, daß Ernst aus einem anderen Land stammte. Nicht, daß er in einem breiten Plattdeutsch redete, aber das taten ja auch seine Freunde nicht. Der Jargon dieser jungen Leute war in den meisten Fällen neutral zu nennen, von der Region, in der sie lebten, bloß leicht eingefärbt, wie man halt in der Sonne ein bißchen braun und vom andauernden Fernsehen und Computerspielen ein bißchen bleich wird. Diese Jugendlichen sprachen also nicht wie in einer Echtzeit-Parodie. Und schon gar nicht wäre es Ernst eingefallen, sich mittels eines massiv hervorquellenden Dialekts über das Land und die Sprache lustig zu machen, welche ihn gerettet hatten.
    Leider geht aber nicht nur das Fieber mal vorbei und müssen auch die ungeliebtesten Gäste mal nach Hause, auch Rettungen finden irgendwann ihr Ende. Wobei es Ernst, wie er da jetzt in seinem Blut lag und das Gefühl hatte, sich Partikel für Partikel aufzulösen, klar wurde, was für ein schrecklicher Fehler es gewesen war, Hamburg zu verlassen und nach Wien zu reisen. In Hamburg wäre er trotz aller Schwierigkeiten sicher gewesen, beschützt von der Stadt an sich, von allen guten Geistern . Doch genau von solchen war er hier in Wien völlig verlassen. Er hatte Hamburg verraten, er hatte Silvia verraten und solcherart auch sich selbst. Auf eine so symbolische wie fatale Weise war er in seine alte Sprache, in sein Trauma und – obgleich er seinen Mund nicht aufbekam und auch gar nicht aufbekommen wollte – in sein Stottern zurückgefallen.
    Aus Ernst wurde wieder Ernest.
    Durch den glitzernden Vorhang seiner im Tränenwasser schwimmenden Augen bemerkte er nun, wie sich jemand über ihn beugte, ein Mann wohl, höchstwahrscheinlich derselbe, der auf ihn geschossen hatte. Eine überaus mächtige Gestalt, wobei einem, wenn man am Boden hingestreckt liegt und nach und nach sein ganzes Blut verliert, so gut wie alles und jeder auf dieser Welt mächtig, ja übermächtig erscheinen muß.
    Ernest spürte die Hand des Mannes an seiner Unterlippe, spürte, wie die Lippe nach unten gezogen wurde und die Finger des Mannes sodann die Zunge berührten.
    »Mein Gott«, dachte Ernest, »will er sie mir abschneiden? Denkt er wirklich, ich könnte ihn verraten? Ich bin fast tot und kann ihn kaum sehen. Außerdem wird da nie wieder ein Wort aus meinem Mund kommen. Wenn ich sterbe, nehme ich alle Wörter mit in mein Grab.«
    Nun, das war auch nicht der Grund, daß der so riesenhaft wirkende Mann nach Ernests Zunge gegriffen hatte. Er schnitt sie nicht ab, sondern führte sie bloß ein Stück aus dem Mund heraus. Und dann …
    Ernest konnte nicht sehen, was geschah, sein Blick verlor jeden Halt, so, wie wenn Steine ins klare Wasser fallen und die ganze Klarheit somit perdu geht. Doch auch wenn er nichts erkannte, so spürte Ernest deutlich, daß der Mann ein kleines Stück Papier auf seine Zunge auflegte und es auf eine behutsame Weise festdrückte, bevor er die Zunge nicht minder behutsam wieder in den Mund zurückschob.
    Ernest wartete. Worauf eigentlich? Daß seine Zunge zu brennen begann? Daß sich das Papierchen in etwas Teuflisches verwandelte? Nichts dergleichen geschah. Ernest mußte schon selbst handeln. Mit einem Rest an Kraft und Wille preßte er seine Zunge gegen den Gaumen, ohne daß der Fremdkörper jedoch freikam. Allerdings meinte er dabei festzustellen, daß die Ränder des Papiers sich aus einer Anordnung kleiner, spitzer Zähne zusammensetzten. Und da nun dieses rechteckige Gebilde jenen bitteren, an alte Petersilie erinnernden Geschmack einer Gummierung besaß, kam Ernest nicht umhin, anzunehmen, daß es sich so schlichter- wie erschreckenderweise um eine Briefmarke handelte, welche da auf seiner Zunge auflag und durchaus in Briefmarkenart
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