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Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand

Titel: Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
Autoren: Jonathan Stroud
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oder ohne, eine verpatzte Entlassung hat immer katastrophale Folgen, die diesmal auch mich betreffen würden. Aber etwas Besseres wollte mir auch nicht einfallen.
    Seufzend trat ich einen Schritt zurück. Mein Herr bückte sich nach dem Beschwörungshorn und schloss die Augen.
Nathanael
    Er verschloss die Augen vor dem Tumult um sich herum und atmete so tief und gleichmäßig, wie er konnte. Zwar hörte er immer noch die Angst-und Schmerzensschreie der anderen, doch es gelang ihm, sie zu verdrängen.
    Das fiel ihm noch relativ leicht – doch den Chor innerer Stimmen, die auf ihn einredeten, konnte er nicht so einfach ausblenden. Endlich war sein großer Augenblick gekommen! Der Augenblick, der unzählige Kränkungen und Entbehrungen vergessen machte! Er kannte die richtige Formel schon lange auswendig. Wenn er sie intonierte, würden die anderen endlich begreifen, dass er jemand war. Sein ganzes Leben lang hatte man ihn unterschätzt! In Underwoods Augen war er ein Dummkopf gewesen, kaum imstande, einen ordentlichen Bannkreis zu ziehen. Er hatte seinem Lehrling nicht zugetraut, dass dieser jeden beliebigen Dschinn beschwören konnte. Lovelace hatte ihn für einen kindischen, sentimentalen Schwächling gehalten, der trotzdem so sehr nach Macht und Ansehen gierte, dass er auf das erstbeste Angebot in dieser Richtung eingehen würde. Lovelace hatte ihm auch nicht abgenommen, dass er Schyler umgebracht hatte, noch im Tod hatte er sich geweigert, das zu glauben. Und jetzt bezweifelte sogar sein eigener Sklave, dass er die richtige Formel wusste! Hörte das denn niemals auf?
    Jetzt war der Augenblick gekommen, da alles von ihm abhing. Viel zu oft schon hatte er tatenlos zusehen müssen – in seinem Zimmer eingesperrt, gegen seinen Willen aus dem Feuer gerettet, von Gewöhnlichen ausgeraubt, in einer Arrestglocke gefangen… Alle diese Demütigungen brannten noch immer wie eben erst erlitten. Jetzt konnte er endlich handeln! Jetzt konnte er es endlich allen zeigen!
    Sein verletzter Stolz schrie nach Wiedergutmachung, das Blut pochte in seinen Schläfen, doch tief in seinem Inneren versuchte sich ein anderes Bedürfnis Gehör zu verschaffen. Verschwommen hörte er jemanden einen Angstschrei ausstoßen und plötzlich überkam ihn Mitleid. Wenn es ihm nicht gelang, sich an die richtige Formel zu erinnern, waren die unglückseligen Zauberer verloren. Ihr Leben hing von ihm ab, und er besaß die nötigen Kenntnisse, sie zu retten. Der Umkehrzauber, die Entlassungsformel… Wie lautete sie doch gleich? Er hatte sie nachgelesen, ganz bestimmt… hatte sie sich erst vor ein paar Monaten eingeprägt. Aber ausgerechnet jetzt wollte sie ihm partout nicht einfallen.
    Es war sinnlos. Er würde auch diesmal scheitern, und sie mussten alle sterben, genau wie Mrs Underwood. Dabei wünschte er sich so sehr, ihnen helfen zu können! Aber etwas nur zu wünschen genügte nicht. Wie verzweifelt hatte er sich gewünscht, Mrs Underwood aus den Flammen zu retten! Er hätte sich bedenkenlos für sie geopfert. Trotzdem hatte er sie nicht retten können. Man hatte ihn mit Gewalt weggebracht und sie war gestorben. Es hatte überhaupt keine Rolle gespielt, wie gern er sie gehabt hatte.
    Einen Moment lang verschmolzen der zurückliegende Verlust und sein augenblickliches Verlangen zu einem einzigen überwältigenden Gefühl. Tränen liefen ihm über die Wangen.
    Hab Geduld, Nathanael.
    Geduld…
    Er holte tief Luft. Sein Kummer verebbte. Und mit einem Mal stand ihm wieder der friedliche Garten seines Meisters vor Augen. Er sah wieder die Rhododendronbüsche mit ihren in der Sonne dunkelgrün glänzenden Blättern, sah die Apfelbäume ihre weiße Blütenpracht verstreuen, sah eine Katze auf einer roten Ziegelmauer liegen. Er spürte wieder die rauen Flechten unter seiner Hand, sah das weiche Moos auf der Statue und fühlte sich geschützt und geborgen. Er sah Miss Lutyens schweigend neben sich sitzen und zeichnen und wohltuende Ruhe überkam ihn.
    Er konnte wieder klar denken, die Erinnerung kehrte zurück.
    Die richtigen Worte fielen ihm ein, so wie er sie vor über einem Jahr auf der Steinbank auswendig gelernt hatte.
    Er schlug die Augen auf und sprach sie mit klarer, kräftiger Stimme und bei der fünfzehnten Silbe zerbrach er das Horn über dem Knie.
    Beim Splittern des Elfenbeins und dem lauten Hall der Worte blieb Ramuthra wie angewurzelt stehen. Die Luftstrudel um ihn herum vibrierten, erst leicht, dann immer stärker. Der Spalt in der
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