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Bamberger Verrat

Bamberger Verrat

Titel: Bamberger Verrat
Autoren: Anna Degen
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an den rauen Stämmen der alten Kastanien auf dem Wilhelmsplatz hinunterlief und sich in den ausgetretenen Stufen zwischen den Bäumen sammelte.
    Sie fühlte sich plötzlich wie aus der Zeit gefallen, so intensiv spürte sie wieder die Beklemmung, die in dem großen Saal mit seinem kalten Neonlicht geherrscht hatte. Sie hatte in der ersten Reihe der Zuschauerbänke gesessen, vor sich den freien Raum, in dessen Mitte der Angeklagte saß mit dem Blick zur erhöhten Bank der Richter und Schöffen. Sie sah wieder Hans Kromms gekrümmten Rücken vor sich, in seinem altmodischen Anzug, der viel zu groß wirkte, als wäre die Lebensenergie, mit der er einst ausgefüllt war, entwichen. Der Mann, den sie im Lauf ihrer Arbeit verachten gelernt hatte, hatte ihr damals leidgetan.
    Um ihr Unbehagen abzuschütteln, atmete Kunigunde bewusst ein paarmal tief ein und aus, putzte sich die Nase und machte sich wieder an ihren Text.
    Hans Kromm hatte im Auftrag der Staatssicherheit aktiv mitgeholfen, den 1958 in den Westen geflohenen Offizier der
DDR
-Grenztruppen Franz Novak in die
DDR
zurückzu»ziehen«. Novak wurde nach einem spektakulär aufgezogenen Schauprozess wegen Republikflucht und Spionage zum Tod verurteilt und am 21.   8.   1960 hingerichtet.
    Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde Hans Kromm Anfang 1995 festgenommen und vor dem Landgericht Bamberg wegen Verschleppung, Freiheitsberaubung und versuchten Totschlags angeklagt. Das Landgericht hat sich intensiv und auf der Grundlage des gesamten einschlägigen Aktenmaterials der
DDR
-Justiz und des Ministeriums für Staatssicherheit (das ich jetzt für diese Arbeit benutzen konnte) mit dem Fall befasst. Es gab zahlreiche Punkte, die zuungunsten des Angeklagten sprachen: Er habe billigend in Kauf genommen, dass Franz Novak aus politischen Gründen verfolgt werde und hierbei durch Gewalt und Willkürmaßnahmen Schaden erleiden und der Freiheit beraubt werde; zu seinen Lasten sei ferner das Leid zu werten, das der Familie Novak zugefügt worden sei und das Kromm durch sein hinterlistiges Handeln mitverursacht habe. Doch da nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass Kromm mit dem Tod Novaks hätte rechnen können, und da die Tat schon fünfunddreißig Jahre zurücklag, in denen sich der Angeklagte sozial eingeordnet verhalten hatte, konnte Kromm aus rechtsstaatlichen Gründen schließlich nur wegen Verschleppung zu einer Freiheitsstrafe von knapp zwei Jahren verurteilt werden.
    An dem Prozess nahmen als Nebenklägerinnen und Zeuginnen auch die Ehefrau Sonja Novak teil und deren Tochter Lieselotte Stolz, geb. Novak. Lieselotte Stolz war nach der Verhaftung und Verurteilung ihrer Eltern (Sonja Novak war zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden) in der
DDR
bei ihrer Großmutter untergebracht und später zur Krankenschwester ausgebildet worden.
    Während der Vernehmung durch den Richter erlitt Hans Kromm einen Kreislaufkollaps. Für einen Augenblick starrten alle erschrocken und regungslos auf den am Boden liegenden Angeklagten. Lieselotte Stolz, die nicht weit entfernt von mir saß, betrachtete den Mann, der durch seinen Verrat das Leben ihrer Eltern zerstört und ihr eigenes schwer beschädigt hatte, einige Sekunden lang voller Verachtung, dann stand sie – als Einzige – auf, ging zu ihm und leistete ihm Erste Hilfe, bis der Notarzt eintraf. Damals nahm ich mir vor, diese stille Heldentat einmal für die Nachwelt festzuhalten.
    Seitdem ließ mich die Frage nicht mehr los, was die Grenze mitten durch Deutschland mit den Betroffenen gemacht hat. Sie ist mit ihrem Abbau nach der Wende 1989 nicht verschwunden; sie lebt weiter in den Seelen, den Erinnerungen der Menschen und wird mit ihnen weitervererbt. Ich wollte wissen, wie es dazu kam, dass eine solche Absperrung errichtet wurde, welche kollektiven Ängste so eine Maßnahme möglich machten, wie die Randbedingungen und die Umsetzung aussahen und wie die Menschen an der Grenze damit umgingen. Vor allem aber wollte ich wissen, was damals wirklich vorgefallen ist in jener Nacht, als Hans Kromm seinen besten Freund Franz Novak verriet, wie sich die Tat auf das Leben der Beteiligten ausgewirkt hat und wie sie die Geschichte heute erinnern.
    Denn dieser Fall zeigt auf ebenso verdichtete wie dramatische Weise das Auseinanderdriften der beiden deutschen Teilgebiete, das sich
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