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Ballnacht in Colston Hall

Ballnacht in Colston Hall

Titel: Ballnacht in Colston Hall
Autoren: Mary Nichols
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ungeduldig sein, Annabelle”, mahnte Lydia. “Du bist schließlich erst fünfzehn.”
    “Nächsten Monat werde ich schon sechzehn”, berichtigte die Schwester. “Und du bist achtzehn und könntest nun wirklich ans Heiraten denken, denn du solltest doch vor mir in den Ehestand treten.”
    “Ach, ich habe keine Eile damit.”
    “Das mag schon sein.” Nachdenklich betrachtete die Mutter die beiden in emsiger Arbeit geneigten Köpfe ihrer Töchter. “Aber die meisten jungen Damen heiraten mit neunzehn. Längeres Warten erweckt leicht den Anschein, als sei man zu wählerisch oder es könne irgendetwas nicht in Ordnung sein. Und das möchte ich auf jeden Fall vermeiden. Du bist ansehnlich und intelligent, Lydia, und ich habe dich auf deine künftigen Pflichten als Ehefrau hin erzogen. Es ist wirklich Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken, wen du wohl heiraten könntest.”
    “Ich habe noch keinen Mann getroffen, der mir gefallen hat, Mama, und ich würde mir lieber meinen Lebensunterhalt selbst verdienen, als zu überstürzt eine eheliche Bindung einzugehen.”
    “Deinen Lebensunterhalt verdienen! Großer Gott, ich habe noch nie so etwas Ausgefallenes gehört! Dein Großvater war ein Baronet, und er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das hören könnte. Wir gehören nicht zu der arbeitenden Klasse, Lydia, auch wenn wir arm sind …”
    “Wir sind arm?” Überrascht hob Lydia den Kopf.
    Die Mutter seufzte. “Ich hatte gehofft, dass es nie so weit kommen würde, aber nun muss ich euch wohl doch reinen Wein einschenken.”
    “Was ist geschehen, Mutter? Schau doch nicht so streng. Habe ich irgendetwas Falsches getan?”
    “Nein, nein, Liebes, du trägst keine Schuld. Es ist nur … Wir haben seit dem plötzlichen Tod deines lieben Vaters von den Zinsen einer kleinen Kapitalanlage gelebt. Aber im letzten Jahr ist der Zinssatz stark gesunken, und ich war gezwungen, das Kapital anzugreifen. Es nimmt seitdem in alarmierender Schnelligkeit ab, sodass ich fürchte, dass ich dir keine Mitgift zukommen lassen kann. Du musst sehen, dich so gut wie möglich auch ohne Aussteuer zu verheiraten. Es ist natürlich nicht das, was ich mir für dich gewünscht hätte …”
    Lydia war tief betroffen, denn sie hatte nicht geahnt, dass die Dinge so schlimm standen. Die Mutter hatte immer sparsam gewirtschaftet und jede Art von Verschwendung verabscheut. Kein Wunder, wenn so wenig Geld im Hause war! Aber sie hatte dennoch den Kindern nie etwas vorenthalten, das sie wirklich brauchten. Was für schwere innere Kämpfe mochte sie dabei ausgefochten haben.
    “Oh, Mama, warum hast du uns nichts davon gesagt? Wir hätten noch besser haushalten können, billiger essen, weniger Bänder und Spitzen kaufen. Und es wäre auch ohne Kutsche gegangen.”
    “So? Damit jeder mit dem Finger auf uns zeigt und deine Chance auf eine günstige Heirat für dich völlig verdorben wird? Seine Armut sollte man der Welt nie vor Augen führen.”
    “Du meinst also, ich muss mich möglichst rasch nach einem Ehemann umsehen?”
    “Ich fürchte, so ist es, mein Kind”, erwiderte die Mutter betrübt. “Einen Gentleman mit einem geachteten Beruf oder den jüngeren Sohn eines Gutsherrn oder jemand wie Sir Arthur Thomas-Smith. Er war schon einmal verheiratet und ist jetzt auf der Suche nach einer zweiten Frau. Er würde bestimmt nicht so viel Wert auf eine Mitgift legen.”
    “Aber Mama!”, rief Lydia entsetzt. “Er ist doch so alt. Und so dick. Und er hat schon drei Töchter.”
    “Aber er ist reich genug, um dir alles bieten zu können. Vielleicht lässt er sich auch dazu überreden, Annabelle eine Aussteuer zu geben und Johns Schule zu bezahlen …”
    “Mama, so trostlos wird unsere Situation vielleicht doch noch nicht sein”, flehte Lydia.
    Resigniert hob die Mutter die Schultern. “Ich fürchte, es beginnt langsam, besorgniserregend zu werden. Wenn wir nicht das Glück hätten, dass Seine Lordschaft uns erlaubt, hier kostenlos zu wohnen …”
    Nach jener Tragödie im Morgengrauen war die vakant gewordene Pfründe an einen neuen Pfarrer vergeben worden, und der Earl hatte der Witwe und ihren Kindern, die das Pfarrhaus hatten räumen müssen, den seit dem Tode seiner Mutter leer stehenden Witwensitz zur Verfügung gestellt. Dieses Entgegenkommen hatte bei Lydia sehr widerstreitende Gefühle ausgelöst. Einerseits widerstrebte es ihr, Almosen von dem Vater des Mannes anzunehmen, der ihren Papa getötet hatte. Andererseits sagte sie sich, dass
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