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Ballnacht in Colston Hall

Ballnacht in Colston Hall

Titel: Ballnacht in Colston Hall
Autoren: Mary Nichols
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wahr?”
    Angstvoll wich sie vor dem zornigen Blitzen seiner Augen zurück. “Nein, Papa, ich weiß es nicht. Deswegen wollte ich ihm ja so schnell nachlaufen – um ihn aufzuhalten. Aber nun ist es zu spät. Jetzt ist er fort. Oh, Papa, er will sich mit Ralph Latimer duellieren”, schluchzte Lydia.
    “Zurück ins Bett!”, befahl der Vater. “Ich werde mich darum kümmern.”
    “Aber du weißt doch auch nicht, wo er ist.”
    “Ich kann es mir aber denken. Und nun marsch ins Bett. Wir reden darüber, wenn ich wieder zurück bin.”
    Bedrückt verließ Lydia das düstere Zimmer, denn sie war sich bewusst, dass der Vater nicht nur darüber reden, sondern sie kräftig ausschelten und vielleicht sogar bestrafen würde. Ihr verehrter Papa konnte sehr unnachsichtig sein, wenn er es für angebracht hielt. Aber es war wohl dennoch kein Vergleich zu dem Gewitter, das über Freddie hereinbrechen würde. Der Vater nahm ohnehin ständig Anstoß an dem Benehmen des Bruders und drohte, ihn von der Universität wegzuholen und zur Armee zu schicken, “um einen Mann aus ihm zu machen”, wie er zu sagen pflegte. Bis jetzt hatte Mama ihn immer wieder davon abhalten können. Aber nun … Es war unvorstellbar für Lydia, den geliebten großen Bruder nicht mehr in der Nähe haben zu können.
    Traurig rollte sie sich neben der schlafenden Annabelle zusammen und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
    Irgendwann musste sie dann doch eingeschlafen sein, denn es war heller Tag, als sie erwachte, und die kleine Schwester war verschwunden. Im Hause herrschte Grabesstille. Nicht einmal die Geräusche der Dienstboten waren zu hören, und Janet, die Kinderfrau, hatte auch kein warmes Waschwasser gebracht, wie sie es sonst immer tat.
    Lydia kroch aus dem Bett und ging zum Fenster. Die Sonne stand hoch am Himmel, und Partridge, der Stallknecht, der gelegentlich auch das Amt des Kutschers versah, führte gerade den grauen Wallach des Pfarrers in den Stall. Freddies Pferd stand, noch gesattelt, neben dem Zaun.
    Rasch kleidete sich Lydia an und sprang vergnügt die Treppe hinunter. An der Tür zum Frühstückszimmer blieb sie jedoch betroffen stehen. Die Mutter und die beiden älteren Schwestern saßen eng beieinander und blickten zu Freddie auf. Die Mädchen schluchzten laut, und Freddie sah aus, als sei ihm ein Höllenspuk begegnet. Seine Wangen waren so blass, dass sie fast durchsichtig wirkten, und in seinen sonst so strahlenden blauen Augen schien alles Leben erloschen zu sein. Doch als Lydia nun den Blick zu ihrer Mutter wandern ließ, erstarrte sie vor Schreck. Die Mutter starrte den Bruder an, als erkenne sie ihren eigenen Sohn nicht mehr. Ihr Gesicht war kreideweiß mit zwei hektischen roten Flecken auf den Wangen, und ihre rechte Hand umkrampfte ein feuchtes Spitzentaschentuch.
    “Was ist denn geschehen?”, fragte Lydia angstvoll.
    Die Mutter wandte ihr den Kopf zu und streckte die Hand aus. “Komm her, mein Kind.” Hastig lief Lydia zu ihr, hockte sich neben sie und lehnte den Kopf an ihr Knie. “Du musst jetzt sehr tapfer sein”, begann die Mutter zögernd. “Wir haben unsere Stütze verloren – den Mittelpunkt unseres Lebens – unseren liebsten, besten, treuesten …” Sie hielt inne, als überlege sie, wie ein so fürchterliches Geschehnis in ertragbare Worte gekleidet werden könnte, und entschloss sich dann doch, den Schlag nicht zu mildern. “Lydia, unser armer Papa ist tot.”
    Ruckartig hob Lydia den Kopf. “Das verstehe ich nicht. Wirklich nicht. Ich dachte, Lord Latimer …” Sie sah den Bruder an. “Du hast doch gesagt …”
    “Papa ist uns gefolgt”, murmelte Freddie. “Und Ralph hat ihn versehentlich erschossen.”
    Wütend sprang Lydia auf. “Und warum hast du ihn dann nicht auch erschossen? Wenn du es nicht willst, werde ich es tun! Oh, Papa …” Sie sank in sich zusammen wie ein Häufchen Unglück und weinte bitterlich. “Es ist meine Schuld. Ich habe es ihm erzählt, und er ist euch nachgegangen. Ich habe ihn gehen lassen.”
    “Du hättest ihn nicht aufhalten können. Genauso wenig, wie du mich hättest aufhalten können.”
    “Und das alles hat uns deine Gottlosigkeit eingebracht”, sagte die Mutter voller Bitternis. “Monatelang hast du dein wildes Leben fortgeführt, du und dieser junge Mann aus dem Kollegium, und das ist nun das Ergebnis. Ich darf gar nicht daran denken, was Seine Lordschaft dazu sagen wird …”
    “Er hat überhaupt keinen Grund, sich zu beklagen”, fuhr Freddie
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