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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Autoren: Dror Mishani
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oder irgendjemand anders gesehen, der Sie kennt, woraufhin er in Panik geraten ist, da jetzt sicher die ganze Welt weiß, dass er die Schule geschwänzt hat, und deshalb traut er sich nicht nach Hause. Solche Sachen passieren. Wenn Sie mir also nicht irgendetwas über ihn verschweigen, haben Sie keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«
    Ihre Stimme bebte: »Was hab ich denn zu verschweigen? Ich möchte, dass Sie ihn finden. Er kann doch ohne sein Telefon nicht anrufen …«
    Das Gespräch führte zu nichts. Er musste dem ein Ende machen. Avraham Avraham seufzte und sagte dann: »Ihr Mann ist erst in einigen Tagen zurück?«
    »In zwei Wochen. Er ist auf einer Schiffsreise nach Triest. In vier Tagen kann er erst von Bord, wenn sie das erste Mal vor Anker gehen.«
    »Er wird nirgendwo von Bord gehen müssen. Wo sind Ofers Geschwister jetzt gerade?«
    »Bei der Nachbarin.«
    Ihm wurde bewusst, dass er zum ersten Mal während ihrer Unterredung den Namen des Jungen laut ausgesprochen hatte. Ofer. Ein so gefälliger Name, dass er seinen eigenen Vornamen sofort gegen den des Jungen eintauschte, wie er es immer tat, wenn er schöne Namen hörte. In seinem Kopf echote bereits der Name, den er nie haben würde: Ofer Avraham. Inspektor Ofer Avraham, Oberinspektor Ofer Avraham. Der Generalkommandeur der Polizeikräfte, Ofer Avraham, hat heute aus persönlichen Gründen seinen Rücktritt bekanntgegeben.
    »Ich schlage vor, Sie kehren jetzt zu Ihren Kindern zurück, und ich verspreche Ihnen, dass wir uns morgen nicht wiedersehen werden. Auf jeden Fall werde ich dafür sorgen, dass man Sie morgen früh anruft und sich nach dem Stand der Dinge erkundigt.«
    Er legte den Stift auf den Bogen Papier und drückte den Rücken gegen die Lehne seines Schreibtischstuhls. Sie stand nicht auf. Solange er ihr nicht ausdrücklich sagen würde, dass ihr Gespräch beendet sei, würde sie nicht gehen. Vielleicht wäre es ja trotz allem möglich, ihr noch ein paar Fragen zu stellen, sie wollte um keinen Preis allein zu Hause sitzen.
    Erst jetzt bemerkte Avraham Avraham, dass er unbewusst während des Gespräches unten auf das Blatt Papier eine blaue Gestalt gekritzelt hatte – ein Strichmännchen, das die Arme in die Höhe streckte –, und um den Kreis, der den Kopf darstellte, war etwas geschlungen, das wie ein Seil aussah, aus dem blaue Blutstropfen quollen. Oder sollten es Tränen sein? Obgleich er keinen Grund hatte, bedeckte er die Zeichnung mit der Hand, die Finger übersät von blauen Kugelschreiberflecken.

    Der Himmel über der Polizeistation und dem Technologischen Institut war fast vollständig schwarz, als er, kurz nach sieben, das Gebäude verließ. In der Fischmann bog er nach rechts ab und in der Golda-Meir dann nach links, mischte sich unter die Marschierenden auf der langen Walkingstrecke, die das Viertel Neve Remes mit Kiryat Sharet verband, und versuchte, sich nicht zu einem sportiven Tempo hinreißen zu lassen. Langsamer, langsam. Es war ein angenehmer Abend, Anfang Mai. In den kommenden Monaten würde es nicht mehr viele solcher Abende geben.
    Weil er langsam ging, bildete sich hinter ihm eine Schlange von Walkern, die meisten zwanzig oder dreißig Jahre älter als er, in Shorts und kurzärmligen Laufshirts. Sie drosselten ihr Tempo, zögerten einen Moment, ehe sie auf den Sandstreifen ausscherten, mit schnellem Hinken den Polizeibeamten in Uniform überholten und auf die asphaltierte Strecke zurückkehrten. Eine Frau, die seine Mutter hätte sein können, streifte ihn am Arm, drehte sich um und keuchte: »Entschuldigung.«
    Mit einem Mal schlug der Verkehrslärm der nahen Schnellstraße an seine Ohren, als hätte jemand ihm Stöpsel herausgezogen. Avraham Avraham wurde bewusst, dass er einige Minuten lang offenbar nichts gehört, nur sich selbst gelauscht hatte, einem inneren Dialog. Diese Frau ließ ihm keine Ruhe. Er musste an den Mordfall Annabelle Amram denken. In dem Urteilsspruch in ihrer Sache, der sämtlichen Polizeibeamten im Land als E-Mail-Anhang zugestellt worden war, war das Gericht zu der Feststellung gekommen, die Polizeiorgane hätten bei der Suche nach ihr geschlampt und seien mitverantwortlich für ihren Tod. Aber die Umstände waren vollkommen andere gewesen. Der Sohn dieser Frau, die ihm vorhin gegenübergesessen hatte, war nicht nachts verschwunden, und es gab auch keinerlei anderen Anhaltspunkt, der ihn dazu verpflichtet hätte, umgehend eine umfangreiche und kostspielige Suchaktion zu veranlassen. Ja,
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