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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Autoren: Dror Mishani
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weggelaufen. Beim ersten Mal, er war noch keine zwölf, sei er zu Fuß – »in Flipflops« – bis nach Ramat Gan gelaufen, zum Haus seiner Großeltern. Das sei an einem der Feiertage passiert, nach einem Streit mit seinem Vater. Und vor ungefähr einem Jahr habe er Streit mit ihr gehabt und am Nachmittag das Haus verlassen, mit der Drohung, er käme nie wieder. Nach neun Uhr abends sei er dann schließlich zurückgekommen. Habe die Wohnungstür aufgesperrt und sei gleich in sein Zimmer marschiert, ohne zu erzählen, was er den ganzen Abend über gemacht hatte. Sie hätten auch hinterher nicht darüber gesprochen. Avraham Avraham hatte sie gefragt, warum sie sich damals nicht an die Polizei gewandt hatte, aber sie hatte nicht geantwortet. Offenbar war sie damals nicht allein, sondern der Vater war zu Hause gewesen. In Avraham Avrahams Vorstellung entstand ein Bild: Ofer Sharabi, von dem er noch immer nicht genau wusste, wie er aussah, legt in einer dunklen, menschenleeren öffentlichen Grünanlage seinen schwarzen Rucksack auf eine Parkbank und streckt sich rücklings darauf aus. Dann deckt er sich notdürftig mit einem grauen Sweatshirt zu, so einem, wie es das Mädchen an der Bushaltestelle angehabt hatte. Er macht sich bereit zum Schlafen. In dem Park ist außer Ofer keine Menschenseele, und das ist gut. Ihm droht keine Gefahr.

    Avraham Avraham kam an dem Haus vorbei, in dem er aufgewachsen war. Alufej Zahal 26, das Haus, in dem nach wie vor seine Eltern lebten. Unwillkürlich hob er den Kopf, um einen Blick auf das Fenster im dritten Stock zu werfen. Die Fensterläden waren geschlossen. Wie lange war er schon nicht mehr hier gewesen? Im zweiten Stock stand das Fenster offen und ein Mann saß ohne Hemd mit dem Rücken zur Straße auf dem Fensterbrett, das Gesicht dem hell erleuchteten Wohnzimmer zugewandt, aus dem Fernsehgeräusche drangen. Die Abendnachrichten fingen gleich an. Der Nachbar sprach mit jemandem in der Wohnung, vielleicht mit seiner Frau, die in der Küche stand. Er war einer der Nachbarn, die einige Jahre zuvor seinen Vater im Treppenhaus gefunden hatten, nach dem Schlaganfall.
    Er ging weiter die Straße entlang und betrat den Supermarkt der Georgier. Für einen Moment überlegte er, seinen Plan zu ändern und sich etwas zu kochen, das seine Gedanken verscheuchen und ihn aufmuntern würde. Vielleicht sollte er eine einfache Flasche Côte du Rhône kaufen und eine Packung Fertigravioli, die er in kochendem Wasser erhitzen, dann mit etwas Olivenöl beträufeln und mit geriebenem Käse bestreuen würde. Aber etwas ließ ihn abermals zögern. Er ging zum Kühlregal, holte eine Singleportion scharfe Sesampaste heraus und befühlte dann die wenigen Brötchen, die im Brotschrank noch verblieben waren, bis er ein halbwegs weiches gefunden hatte. Vor der Kasse legte er noch eine kleine Packung Cherrytomaten in den Korb. Hätte er nicht den Bogen Papier, auf dem er die Adresse notiert hatte, im Büro vergessen, wäre er jetzt nach Hause gegangen, hätte seinen Wagen genommen und wäre zu dem Haus gefahren, in dem die Mutter wartete. Dort hätte er sich auf die Lauer gelegt, bis er Ofer Sharabi ins Treppenhaus hätte schlüpfen sehen und ihre Schreie oder ihr Weinen gehört hätte. Dann hätte er besser schlafen können. Aber er hatte das Blatt vergessen, obwohl er es zu einem kleinen Quadrat gefaltet und in seine Hemdtasche hatte stecken wollen. Vielleicht hatte er ja die Zeichnung nicht mitnehmen wollen, die ihn, eigentlich grundlos, verstört hatte. Ihm kam eine Idee: Er konnte Ilana anrufen und sich mit ihr beraten. Sollte Ilana ihm nahelegen, aufs Revier zurückzukehren und umgehend eine Vermisstenfahndung einzuleiten, dann würde er dies tun, egal, wie spät es war. Aber wenn er sie anrief, bewies er erneut einen Mangel an Selbstbewusstsein, und das wollte er nicht. Er bezahlte mit Kreditkarte, um das wenige Bargeld, das er noch im Portemonnaie hatte, nicht auszugeben.
    Er ging die Alufej Zahal zurück, kam abermals am Haus seiner Eltern vorüber und entschied, dass es keinen Sinn hatte, jetzt bei ihnen reinzuschauen. Sein Vater hockte sicher im Dunkeln vor dem Fernseher und stierte auf die Nachrichten, der denkbar ungünstigste Zeitpunkt also, ihn zu stören. Seine Mutter saß, wenn sie nicht auf einem Spaziergang war, am Esstisch in der Küche und telefonierte. Er hatte keine Lust zu hören, wie sie am Telefon zu irgendeiner ihrer Freundinnen sagen würde: Oh, Avi ist gerade gekommen, ich muss ihm
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