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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Autoren: Dror Mishani
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zurück ist. In Ordnung? Sie haben erklärt, er sei zur Schule gegangen wie gewöhnlich. Um wie viel Uhr, sagten Sie? Um zehn vor acht?«
    »Ich hab nicht auf die Uhr geschaut, das hab ich Ihnen doch schon gesagt. Aber so wie jeden Morgen, vielleicht um Viertel vor acht.«
    Er schob die Tastatur beiseite und schrieb mit einem einfachen Einwegkugelschreiber, den er in seiner Schublade fand, kurze Sätze auf einen glatten Bogen Papier. Den Stift hielt er dicht oberhalb der Spitze umklammert, mit allen Fingern. Zeige- und Ringfingerspitze waren schon blau verschmiert.
    »Also, der genaue Zeitpunkt ist nicht so wichtig. Hatte er einen gewöhnlichen Rucksack dabei? Ist Ihnen aufgefallen, dass er etwas Ungewöhnliches mitgenommen haben könnte, war der Rucksack besonders groß oder fehlen vielleicht Kleidungsstücke aus seinem Schrank?«
    »Ich hab nicht in seinem Schrank nachgeschaut.«
    »Und wann haben Sie festgestellt, dass er sein Mobiltelefon nicht bei sich hat?«
    »Irgendwann tagsüber, als ich sein Zimmer geputzt habe.«
    »Putzen Sie jeden Tag sein Zimmer?«
    »Bitte? Nein, nicht jeden Tag. Nur manchmal, wenn es schmutzig ist.«
    Auf ihn wirkte sie allerdings wie eine, die jeden Tag putzte. Obwohl sie schmächtig war, kleine Hände hatte. Mit gekrümmtem Rücken saß sie auf der Stuhlkante, auf den Knien eine abgewetzte schwarze Ledertasche. Mit der einen Hand hielt sie die Tasche fest, und mit der anderen hatte sie ein kleines Mobiltelefon umklammert, ein betagtes blaues Samsung-Modell. Dabei war diese vom Leben gebeugte Mutter, die einen sechzehnjährigen Sohn hatte, genau genommen in seinem Alter, vielleicht zwei Jahre älter als er. Aber nicht älter als vierzig. All dies notierte er jedoch nicht, weil es so absolut ohne jede Bedeutung war.
    »Das Telefon war abgeschaltet, nicht wahr? Das sagten Sie?«
    »Ja, es war aus. Es lag auf seinem Schreibtisch im Zimmer.«
    »Und haben Sie es eingeschaltet?«
    »Ich hab’s nicht angemacht. Denken Sie, ich hätte es anmachen sollen?«
    Das war die erste Frage, die sie an ihn richtete. Ihre Finger schlossen sich fester um die Tasche, und ihm schien, als hörte er ein Erwachen in ihrer Stimme. Als hätte er ihr gesagt, sobald sie das Telefon einschaltete, würde es klingeln und ihr Sohn wäre am Apparat und würde versichern, auf dem Weg nach Hause zu sein.
    »Ich weiß nicht. Auf jeden Fall empfehle ich Ihnen, es einzuschalten, sobald Sie wieder zu Hause sind.«
    »Als ich das Telefon gefunden hab, hab ich sofort ein schlechtes Gefühl gehabt. Ich kann mich nicht erinnern, dass er irgendwann mal sein Telefon vergessen hätte.«
    »Ja, das erwähnten Sie bereits. Seinen Schulkameraden haben Sie erst am Nachmittag angerufen, richtig?«
    »Bis vier hab ich gewartet, weil er sich manchmal ein bisschen verspätet, und mittwochs haben sie einen langen Tag, da kommt er immer so um drei, halb vier. Um vier hab ich angerufen.«
    »Und glauben Sie seinem Schulfreund?«
    Sie antwortete mit einem »Ja«, das entschieden begann und dann zögerlich geriet.
    »Meinen Sie etwa, er hat gelogen? Er hat doch gehört, dass ich mir Sorgen mache.«
    »Ich weiß nicht, ob er gelogen hat, Verehrteste, ich kenne den Jungen nicht. Ich weiß nur, dass bei Freunden manchmal einer den anderen deckt, und wenn Ihr Sohn beschlossen hat, heute die Schule zu schwänzen und nach Tel Aviv zu fahren, um sich zum Beispiel eine Tätowierung machen zu lassen, dann könnte er seinen besten Freund eingeweiht und ihn gebeten haben, niemandem etwas davon zu erzählen.«
    Hätte ich das so gemacht?, fragte er sich und wusste nicht, ob Schüler noch immer den Ausdruck »schwänzen« verwendeten. Vielleicht weil die Mutter wie erstarrt dasaß und so verschreckt vor einem Beamten in Uniform wirkte, vielleicht aber auch, weil es schon spät war, erzählte er ihr nicht, dass er auf dieselbe Schule gegangen war. Er hatte die Morgen noch gut in Erinnerung, an denen er zur Bushaltestelle am Anfang der Schenker-Straße gegangen war und auf die Linie 1 oder 3 gewartet hatte, um nach Tel Aviv zu fahren, statt in die Schule zu gehen. Niemandem hatte er damals davon erzählt, auch nicht seinen wenigen Freunden. Für den Fall, dass er einer der Lehrerinnen über den Weg laufen würde, hatte er sich eine glaubwürdige Geschichte zurechtgelegt.
    »Warum sollte er irgendwohin fahren und nichts sagen? So was hat er noch nie gemacht.«
    »Vielleicht ist dem so, vielleicht auch nicht, nachfragen lohnt sich. Sollte er nicht zu Hause
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