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Auswahl seiner Schriften

Auswahl seiner Schriften

Titel: Auswahl seiner Schriften
Autoren: Richard Wagner
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in den meisten Fällen werden wir durch die Klugheit angewiesen, den Beweis der Liebe des Nächsten erst abzuwarten, da wir seiner bloßen Liebeserklärung nicht viel zuzutrauen berechtigt sind. Genau betrachtet ist unser Staat und unsere Gesellschaft nach den Gesetzen der Mechanik so berechnet, daß es darin ohne Mitleid und Nächstenliebe ganz erträglich abgehen solle. Wir meinen, dem Apostel des Mitleids wird es große Mühseligkeiten bereiten, wenn er seine Lehre zunächst von Mensch zu Mensch in Anwendung gebracht wissen will, da ihm selbst unser heutiges, unter dem Drucke der Noth und dem Drange nach Betäubung so sehr entartetes Familienleben keinen rechten Anhalt bieten dürfte. Wohl steht auch zu bezweifeln, daß seine Lehren bei der Armee-Verwaltung, welche doch mit Ausnahme der Börse, so ziemlich unser ganzes Staatsleben in Ordnung erhält, eine feuerige Aufnahme finden werde, da man gerade hier ihm beweisen dürfte, daß das Mitleiden ganz anders zu verstehen sei als er es im Sinne habe, nämlich en gros , summarisch, als Abkürzung der unnützen Leiden des Daseins durch immer sicherer treffende Geschosse.
    Dagegen scheint nun die »Wissenschaft«, durch Anwendung ihrer Ergebnisse auf berufsmäßige Ausübung, die Mühewaltung des Mitleides in der bürgerlichen Gesellschaft mit officieller Sanktion übernommen zu haben. Wir wollen hier die Erfolge der theologischen Wissenschaft, welche die Seelsorger unserer Gemeinden mit der Kenntniß göttlicher Unerforschlichkeiten ausstattet, unberührt lassen und für jetzt vertrauensvoll annehmen, die Ausübung des unvergleichlich schönen Berufes ihrer Zöglinge werde diese gegen Bemühungen, wie die unsrigen, nicht geringschätzig gestimmt haben. Leider muß allerdings dem streng kirchlichen Dogma, welches für sein Fundament noch immer nur auf das erste Buch Mosis angewiesen bleibt, eine harte Zumuthung gestellt werden, wenn das Mitleid Gottes auch für die zum Nutzen der Menschen erschaffenen Thiere in Anspruch genommen werden soll. Doch ist heut' zu Tage über manche Schwierigkeit hinweg zu kommen, und das gute Herz eines menschenfreundlichen Pfarrers hat bei der Seelsorge gewiß manche weitere Anregung gewonnen, welche seine dogmatische Vernunft für unser Anliegen günstig gestimmt haben könnte. So schwierig es aber immerhin bleiben dürfte, die Theologie rein nur für die Zwecke des Mitleides unmittelbar in Anspruch zu nehmen, um so hoffnungsvoller dürften wir sofort ausblicken, wenn wir uns nach der medizinischen Wissenschaft umsehen, welche ihre Schüler zu einem einzig auf Abhilfe menschlicher Leiden berechneten Beruf ausrüstet. Der Arzt darf uns wirklich als der bürgerliche Lebensheiland erscheinen, dessen Berufsausübung im Betreff ihrer unmittelbar wahrnehmbaren Wohlthätigkeit mit keiner anderen sich vergleichen läßt. Was ihm die Mittel an die Hand giebt, uns von schweren Leiden genesen zu machen, haben wir vertrauensvoll zu verehren, und es ist deßhalb die medizinische Wissenschaft von uns als die nützlichste und allerschätzenswertheste angesehen, deren Ausübung und Anforderungen hierfür wir jedes Opfer zu bringen bereit sind; denn aus ihr geht der eigentliche patentirte Ausüber des, sonst so selten unter uns anzutreffenden, persönlich thätigen Mitleides hervor.
    Wenn Mephistopheles vor dem »verborgenen Gifte« der Theologie warnt, so wollen wir diese Warnung für eben so boshaft ansehen, als seine verdächtige Anpreisung der Medizin, deren praktische Erfolge er, zum Troste der Ärzte, dem »Gefallen Gottes« überlassen wissen will. Doch eben dieses hämische Behagen an der medizinischen Wissenschaft läßt uns befürchten, daß gerade in ihr nicht »verborgenes«, sondern ganz offen liegendes »Gift« enthalten sein möge, welches uns der böse Schalk durch sein aufreizendes Lob nur zu verdecken suche. Allerdings ist es erstaunlich, daß diese als aller nützlichst erachtete »Wissenschaft«, je mehr sie sich der praktischen Erfahrung zu entziehen sucht, um sich durch immer positivere Erkenntnisse auf dem Wege der spekulativen Operation zur Unfehlbarkeit auszubilden, mit wachsender Genauigkeit erkennen läßt, daß sie eigentlich gar keine Wissenschaft sei. Es sind praktische Ärzte selbst, welche uns hierüber Aufschluß geben. Diese können von den dozirenden Operatoren der spekulativen Physiologie für eitel ausgegeben werden, indem sie etwa sich einbildeten, es käme bei Ausübung der Heilkunde mehr auf, nur den praktischen
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