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Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt
Autoren: Paola Zannoner
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Ziel
    Die weiße Linie war das Ziel, es war nur noch wenige Meter entfernt.
    Drei Augenpaare waren auf Viola geheftet, die die letzte Hürde übersprungen hatte und sich in Richtung Ziel nach vorne warf, den Kopf in die Höhe gereckt wie eine stolze Kriegerin. Jetzt zahlte sich das eiserne Training aus, sie mobilisierte die letzten Kräfte, um auf der Zielgeraden noch mal das Tempo zu forcieren.
    Sirio hielt gebannt den Atem an, die schweißnassen Hände klebten auf den Knien, die Brust war leicht nach vorne gebeugt. Es hielt ihn kaum auf seinem Sitz, in knisternder Erwartung, endlich die Arme hochreißen und die ganze aufgestaute Anspannung in einem Jubelschrei entladen zu können.
    Neben ihm auf der Tribüne, nicht minder aufgeregt, umklammerte Violas Mutter die Sitzfläche und presste die Fingernägel ins Holz, sie bemerkte nicht einmal, dass sie sich den feuerroten Nagellack ruinierte, den sie extra für diesen Anlass aufgetragen hatte, als Glücksbringer für ihre Tochter, die gerade elegant das letzte Hindernis überquerte. Dieses hoch aufgeschossene dunkelhaarige Mädchen, das ihr aus diesem Blickwinkel schon wie eine Frau vorkam, so groß und kraftvoll, dabei war sie erst fünfzehn Jahre alt. Aber dieses Mädchen trotzte seiner scheinbaren Zerbrechlichkeit, es hatte bereits seine Flügel ausgebreitet und war dabei, davonzufliegen, mit diesem Kribbeln, das jeden Flügelschlag eines jungen Lebens begleitete. Patricia kannte das nur zu gut, dieses Kribbeln hatte sie ehemals selbst gespürt und sein Nachhall hatte sie heute überrascht.
    Viola war am Vortag mit ihrem Trainer abgereist, sie hatte die Tasche gepackt und gesagt: »Wir sehen uns morgen Abend.« Dann war sie in der schwülen Hitze der letzen Junitage verschwunden. Patricia hatte nicht die Kraft gehabt, sie zur Tür zu bringen, die Schwüle laugte sie aus. Sie hatte nur gesagt: »Ruf mich an, wie es gelaufen ist.« Aber das Ende des Satzes hatte sie ins Leere gesprochen, weil die Tür sich bereits hinter Viola geschlossen hatte.
    Dann hatte Leo angerufen. »Das ist ein internationales Meeting«, und er hatte hinzugefügt: »Ich kann Sie abholen.«
    »Du? Aber du … « Sie hielt erschrocken inne. »Du kannst doch gar nicht Auto fahren, du bist noch nicht achtzehn.«
    »Ich habe einen Fahrer«, hatte Leo in heiterem Ton geantwortet, »morgen um acht sind wir bei Ihnen.«
    Patricia war früh aufgestanden und hatte sich sorgfältig zurechtgemacht. Sie fühlte sich zu ihrer Überraschung sogar wohl dabei. Als sie sich im Spiegel sah, hatte sie sich fest vorgenommen, einen Termin beim Friseur auszumachen, diese Frisur war wirklich unmöglich. Deshalb hatte sie einen breitkrempigen bunten Hut aufgesetzt, was bei der stechenden Sonne ohnehin von Vorteil war, und zwei Creolenohrringe dazu kombiniert. Dann noch ein wenig Lippenstift und Rouge, ein geblümtes Sommerkleid und weiße Sandalen. Ihre noch etwas müden Augen verbarg sie hinter einer Sonnenbrille. Als Leos Begleiter sie kommen sah, warf er ihr einen bewundernden Blick zu und Patricia war geschmeichelt. Lächelnd stieg sie ins Auto und zum ersten Mal fiel Leo auf, wie ähnlich ihr Viola sah.
    Und während Leo nun mit angehaltenem Atem die entscheidenden letzten Meter verfolgte, blieb alles in ihm und um ihn herum stehen, er nahm kein Geräusch mehr wahr, nicht einmal seinen eigenen Herzschlag. In diesen wenigen Sekunden verschwand alles, bis auf dieses Mädchen, das mit wirbelnden Beinen und geballten Fäusten über die Bahn stürmte, als müsste sie sich den Weg freiboxen, die weiße Ziellinie vor Augen. Dieses Energiebündel hielt nichts und niemand auf. Als Leo sie laufen sah, fühlte er sich ihr so unendlich nah, als wären sie eins.
    Das ist der perfekte Moment, diese Sekunde hat jeden anderen Gedanken außer Kraft gesetzt, jede Faser meines Körpers stillgelegt. Mein Körper, der sonst immer Aufmerksamkeit und Pflege braucht, den ich mit eiserner Disziplin kontrollieren muss, spielt auf einmal keine Rolle mehr.
    In diesem Moment existiere ich nicht mehr, es gibt nur noch das Bild dieses Mädchens. Ich bin nicht mehr Leo, ich bin Viola, ich wirbele über die Bahn und spanne die Muskeln, um die maximale Kraft in meine Schritte zu legen. Ich setze zum Endspurt an, beschleunige nochmals. Ich bin Viola, ich bin ein Körper, der der Erde gehört, aber in der Luft vibriert, der der Schwerkraft trotzt und im Rausch der Geschwindigkeit dem Ziel entgegeneilt. Hinter dieser weißen Linie lodert die Flamme
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