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Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt
Autoren: Paola Zannoner
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Ihre Stimme klingt alarmiert. »Bist du allein?«
    »Viola ist da.«
    »Ah.« Sie atmet erleichtert aus, wirkt aber leicht verstimmt, als sie wiederholt: »Viola.«
    Ja, Viola. Sie kommt mit dem Fahrrad zu mir, stellt es in die Garage und dann fahren wir mit dem Bus zur Haltestelle am Park. Der Park ist meine Welt, dort fühle ich mich zu Hause. Keine Wände, keine Türen, keine sperrigen Möbel. Nur der Himmel, die Erde, der Rasen und die Bäume mit weißer Rinde.
    Es ist Mai, wir stellen den Rollstuhl am Wegesrand ab und legen uns ins Gras, auf den Rücken, um in den Himmel zu sehen. Die Wolken ziehen langsam vorbei, die Drosseln fliegen durch die Luft und Viola erzählt von Reisen und fremden Ländern.
    Im Mai hatte Viola dreimal die Woche am späten Nachmittag Training. Die anderen beiden Werktage verbrachte sie mit Leo im Park, wo sie von einem besseren Leben in einer fremden Stadt träumten, irgendeiner weltoffenen, freundlichen Stadt, in der es nicht wichtig war, wer man war, einer Stadt, in der man sich zu Hause fühlen konnte.
    »Dort kannst du alles tun, was du willst«, schwärmte Viola. »Dort zählt nur, was du kannst, niemand fragt, wer deine Eltern sind.«
    »Mir würde schon ein Ort genügen, wo es keine Treppen und keine Türen gibt«, sagte Leo mit geschlossenen Augen.
    Viola fügte hinzu: »Mit breiten Straßen und großen Gebäuden.«
    »Ohne Hindernisse, keine Treppen oder Kabel am Boden«, fantasierte Leo weiter. »Und keine Bürgersteige, die hasse ich, weil die Leute sich an die Hauswand drücken müssen, damit ich vorbeikomme, als ob ich ein Panzer wäre. Unmöglich, mich zu ignorieren, aber ich habe immer das Gefühl, als würden sich alle Augen nur auf meinen Rollstuhl heften. Niemand sieht mich, alle sehen den Rollstuhl, dieses sperrige Monstrum, das den ganzen Bürgersteig einnimmt. Und wenn dort alles dreckig ist, was machst du dann? Gestern musste ich einen Umweg machen wegen einem Hundehaufen. Wenn das an den Rädern hängen bleibt, dann gute Nacht, Marie. Ich will also bitte auch einen Ort ohne Hunde.«
    »Die armen Hunde.«
    »Sagen wir, ohne Hundebesitzer.«
    »Ohne ignorante, egoistische Hundebesitzer. Ohne Leute, die nur an sich denken.« Viola stützte sich auf einen Ellbogen. »Es sieht so aus, als hätten wir nur eine Möglichkeit: Wir müssen die ganze Welt neu erschaffen.«
    »Vielleicht ist es besser, nicht in der Stadt, sondern auf dem Land zu leben.« Leo hatte die Augen noch immer geschlossen. »Mitten in der Natur.«
    »Verbannt aus der Stadt, die dir feindlich gesinnt ist, meinst du?«
    Leo riss die Augen auf und drehte sich zu Viola um. »Was hast du gesagt?«
    »Ich habe gesagt, raus aus der Stadt, die dir feindlich gesinnt ist.«
    »Nein, du hast ein anderes Wort benutzt, du hast ›verbannt‹ gesagt.«
    Viola war überrascht: »Ja, das ist doch der richtige Ausdruck für jemanden, den man verjagt hat.«
    »Genau so sehe ich mich, als Verbannten.«
    Viola drehte sich zu einem in voller Blüte stehenden Busch um, von dem ein unablässiges Brummen zu hören war: fleißige Insekten bei der Arbeit. »Niemand hat dich verjagt oder gar verbannt. Alle mögen dich, scheint mir.«
    »Das ist etwas anderes. Es hat nichts mit den anderen zu tun, sondern mit mir selbst. Ich bin in einer anderen Situation als vor dem Unfall, ich bin in einer anderen Welt und kann nicht mehr zurück.«
    »Das hat trotzdem auch mit den anderen zu tun. Du bist doch kein einsamer Wolf, es gibt so viele Menschen, die dich mögen, die dich brauchen.« Viola hätte am liebsten gesagt: »Zum Beispiel ich, ich mag dich sehr.« Aber es war nicht einfach, so etwas zu sagen. Außerdem antwortete Leo schon zynisch: »Wer denn? Meine Eltern? Meine Mutter hat es mit den Nerven, die ist völlig durchgedreht. Für sie wäre es besser, wenn ich nicht mehr da wäre. Und mein Vater tut schon lange so, als wäre ich nicht da, er meidet mich, weicht mir aus, lehnt mich ab. Weißt du, dass er noch kein einziges Mal den Rollstuhl angefasst hat? Ich bin sicher, dass er jedes Mal zusammenzuckt, wenn er mich sieht.«
    »Vielleicht weiß er nicht, was er machen soll.«
    »Nein, er will es nicht wissen. Er will mich nicht so akzeptieren, wie ich bin, verstehst du?« Leos Stimme brach, aber er hatte die in ihm aufsteigenden Gefühle schnell wieder unter Kontrolle und atmete tief durch. »Er denkt nur daran, dass ich wieder ganz gesund werden soll. Er hat sich sogar an einen Wunderheiler gewandt. Stell dir das mal vor! Ein
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