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Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt
Autoren: Paola Zannoner
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Sünder mit einzubeziehen. »Das haben wir bemerkt.« Sie blickte ermutigend in die Runde: »Kann jemand Leo erklären, was ein Paradigma ist?«
    Verlegene Stille. Einen Moment lang fühlte sich Leo von seinen Klassenkameraden unterstützt, vielleicht sogar verteidigt. Nicht, dass sie eine verschworene Gemeinschaft gewesen wären, im Gegenteil. Er wusste eigentlich gar nichts von den anderen, von den meisten zumindest. Als hätten sie sich heute Morgen das erste Mal getroffen. Verrückt, wie man jeden Tag auf so engem Raum zusammen sein konnte, ohne sich näherzukommen. Um ehrlich zu sein, würde er einige nicht einmal erkennen, wenn er sie zufällig auf der Straße treffen würde. Es war ihm tatsächlich einmal passiert, dass ihm jemand im Supermarkt etwas hinterhergerufen hatte. Ein mickriger Typ, der ganz verloren wirkte in seiner viel zu großen Jacke. Er hatte seinen Nachnamen gerufen und ihm zugewunken. Zuerst hatte er gedacht, es wäre jemand aus der Fußballmannschaft, einer von den Kleinen, und hatte ihm zugenickt, aber am nächsten Morgen hatte er ihn im Klassenraum sitzen sehen. Nach fünf Monaten hatte er ihn das erste Mal bewusst wahrgenommen.
    »Viola?« Die Stimme der Lehrerin riss ihn aus der flüchtigen Illusion, von seinen Mitschülern geschützt zu werden. Er reckte den Kopf und sah die erhobene Hand des Mädchens aus der ersten Reihe. Viola. Die Klassenbeste.
    »Es ging um Sprache.« Ihre Stimme hatte nichts Streberhaftes oder Arrogantes. Sie sprach fast beiläufig, als ginge es darum, was es gestern zum Abendessen gegeben hatte. »Um die paradigmatische Beziehung zwischen linguistischen Einheiten.«
    »Und das bedeutet?«, bohrte die Lehrerin weiter.
    »Dass die linguistischen Einheiten eines Satzes in unterschiedlichen Formen auftreten können, je nachdem, in welchem Bezug zueinander sie stehen, zum Beispiel bei der Konjugation der Verben oder bei der Deklination.«
    Linguistische Einheit? Leo würde dafür allenfalls »Wort« einfallen. Und Deklination? Er war einfach ein hoffnungsloser Fall, auch wenn es falsch gewesen wäre, zu sagen, dass er keine Lust zum Lernen hatte, denn es ging nicht nur ums Lernen, sondern um die Schule als Ganzes. Sie gefiel ihm einfach nicht, weder drinnen noch draußen. Das kasernenähnliche Gebäude, die grellen Neonleuchten, die dreckigen Tische, die Menschen, die dort arbeiteten, angefangen bei den trist gekleideten Lehrern und den Hausmeistern, die nichts taten, als durch die Gänge zu brüllen, bis hin zu den dicken Büchern voller Worte, die im normalen Leben niemand benutzte, nicht einmal ein Arzt oder ein Rechtsanwalt. Alles in allem konnte man all das mit einer einzigen linguistischen Einheit beschreiben: Langeweile.
    Leo saß rittlings auf dem Motorroller und wartete. Der Großteil seiner Klassenkameraden war schon aus der Schule gestürmt, als wären sie auf der Flucht, zusammen mit den Unterstufenschülern. Ziemlich kindisch. Einige Schüler aus den oberen Klassen standen noch vor dem Eingang und unterhielten sich, andere gingen in die Bar gegenüber und tranken noch etwas, bevor sie nach Hause gingen, ganz so, wie es Erwachsene nach Büroschluss machen. Leo wartete, den Ellbogen auf den Helm gestützt.
    Endlich, da kam sie. Viola. Wer weiß, warum sie als eine der Letzten das Gebäude verließ, gemeinsam mit den Abiturienten. Eine Freundin war bei ihr, wahrscheinlich nicht aus ihrer Klasse, Leo konnte sich nicht daran erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben, aber beschwören würde er es nicht. Sie waren in ein Gespräch vertieft, fast hätten sie ihn gar nicht bemerkt. Dabei starrte er sie an wie ein Falke.
    »Viola.«
    Sie wandte sich zu ihm um und errötete leicht, während sie sich mit einer Hand eine Haarsträhne hinters Ohr strich. »Oh, hallo.«
    Leo sah sie mit finsterem Blick an und sagte betont ruhig: »Das hättest du dir sparen können.«
    Sie errötete noch etwas mehr, schlug die Augen nieder und lächelte unsicher. Ihre Freundin presste sich die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. Leo warf ihr einen wütenden Blick zu, aber sie konnte nicht anders und kicherte los.
    »Tut mir leid.« Violas Stimme zitterte, aber nicht vor Angst oder Wut, es war ihr Lächeln, das ihre Worte vibrieren ließ. Ein Lächeln voller Ironie, so kam es Leo jedenfalls vor.
    »Von wegen tut mir leid«, blaffte er sie an, der Zorn ließ seine Stimme lauter werden. »Du bist so eine Arschkriecherin, echt widerlich. Das nächste Mal hältst du
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