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Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt
Autoren: Paola Zannoner
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schweißdurchtränkte Trikot, das an seinem Körper klebte, sah aus wie ein antikes Kettenhemd. Ein Stirnband hielt die langen, lockigen Haare in Schach, trotzdem hoben und senkten sie sich bei jeder Bewegung wie Flügel. Sein angespanntes Gesicht wurde von großen, wachen Augen beherrscht, die auf ein Ziel gerichtet waren, er biss sich vor Anspannung auf die Unterlippe. Leo sah aus wie ein antiker Held, er kämpfte wie ein Löwe. Und als dieser Löwe mit wehender Mähne seine Pranke mit dem Ball in Richtung Korb ausstreckte, fiel es Enrico wie Schuppen von den Augen. Das war Leo, wie er wirklich war. Das war sein Sohn. Er senkte den Kopf und weinte.
    Enrico stand auf, sein Blick glitt über die Zuschauer und suchte dieses Mädchen, Viola. Er fand sie inmitten einer großen Gruppe junger Leute. Wie viele Freunde hatte sein Sohn eigentlich? Glückliche junge Menschen, die Leos Namen riefen, verbunden mit Adjektiven, die er niemals mit seinem Sohn in Verbindung gebracht hätte, die aber perfekt zu ihm passten: großartiger Leo, fantastischer Leo, magischer Leo.
    Er ging auf Viola zu, sie wandte gerade den Kopf zur Seite und sprach mit jemandem, dann sah sie ihn und lächelte ihm zu. Er nickte kurz, aber vielleicht lag etwas in seinem Blick, das sie bewog, ihm entgegenzugehen. »Geht’s Ihnen nicht gut?«
    Enricos Augen waren gerötet, sein Gesicht aufgequollen. »Doch, doch, es geht mir gut. Ich möchte dir etwas sagen.« Viola hatte sich die Hand trichterförmig ans Ohr gelegt, um zu zeigen, dass sie nichts verstehen konnte. Bei diesem Höllenlärm in der Halle war das nicht verwunderlich. Sie gingen nach draußen. Obwohl hier der Krach gedämpft war, schienen die Wände zu vibrieren, als hätten sie ein Eigenleben.
    »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, begann er. Viola war die Situation peinlich, was wollte Leos Vater von ihr? Er machte einen verwirrten, ja, verzweifelten Eindruck, vielleicht hatte er sogar geweint, seine Augen waren ganz rot. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, sie verstand nicht, wie Erwachsene dachten. Enrico fuhr fort: »Hast du meinen Sohn gesehen?«
    Violas Gesicht hellte sich auf. »Er war fantastisch.« Dann setzte sie spontan hinzu: »Das ist er immer, in jedem Augenblick seines Lebens.«
    »Das ist es ja gerade, was ich nicht verstehe. Nein, vielleicht … Ihr habt vorhin Dinge über Leo gesagt, Dinge, die ich nicht denken oder laut aussprechen kann.«
    »Dinge? Was für Dinge?« Viola sah ihn verblüfft an.
    »Magischer Leo. Das zum Beispiel. Ich habe noch nie daran gedacht, aber es stimmt. Er ist magisch.« Viola nickte, sie fühlte sich unbehaglich, während Enrico weitersprach: »Ich suche nach Wundern, dabei vollbringt er sie ganz alleine. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Ich weiß nicht, wie man solche Sachen sagt.« Ein lauter Schrei von drinnen ließ ihn den letzten Satz fast brüllen. Solche Sachen. Viola war ungeduldig, sie wollte wieder rein zu ihren Freunden, statt diesem Mann zuzuhören, der unverständliche Sätze von sich gab. Sie war verwirrt über sein seltsames Geständnis, was erwartete dieser Mann von ihr? Dass sie zu Leo sagte, dass sein Vater ihn liebte? Oder dass sie ihm versicherte, dass Leo ihn liebte? Die Liebe brauchte keine Worte. Sie hatte es eilig und da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, kam ihr der Text eines Liedes in den Sinn: »Wir können alles sagen. Aber wenn wir nicht die richtigen Worte finden, dann genügt auch eine Geste, eine Berührung.« Sie wurde rot, weil sie fürchtete, etwas Dummes gesagt zu haben, auf Englisch klang das irgendwie besser. Deshalb nutzte sie einen Beifallsorkan, der in dem Moment die Hallenwände zum Beben brachte und sagte: »Entschuldigung, aber ich muss wieder rein.«
    Das Publikum raste vor Begeisterung, jeder Korb löste einen Jubelsturm aus, der mit einem lauten Echo zurückgeworfen wurde, wie der fauchende Atem einer Bestie. Enrico kam es vor, als würde die Bestie an seiner Stelle seufzen und er spürte, wie es ihm eng um die Brust wurde, als käme nicht genug Luft in die Lungenflügel. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und beruhigte sich ein bisschen. Ein Ordner kam und wies ihn darauf hin, dass man in der Halle nicht rauchen durfte. Verwirrt machte er die Zigarette aus. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er seinen Sohn seit Monaten nicht mehr berührt hatte und er wünschte sich, er könnte ihn in die Arme nehmen, wie damals, als Leo noch ein Kind war.

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