Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausgebremst

Ausgebremst

Titel: Ausgebremst
Autoren: Wolf Haas
Vom Netzwerk:
David Purley.
     
    Ich weiß, daß diese Startaufstellung für viele Menschen ein Ärgernis wäre. Damit meine ich nicht Theresa, die es erschrecken würde, daß ich mich mit sechsundzwanzig toten Männern in den Schlaf wiege. Ich meine die Millionen von Formel-1-Fans, die angesichts dieser Trainingsergebnisse aufschreien würden.
    Ich höre die wütenden Einwände der Engländer, daß Graham Hill als zweifacher Weltmeister nur in der zwölften Reihe stehen soll. Während Fahrer in den vordersten Reihen stehen, an die man sich heute kaum noch erinnert.
    Ein zusätzlicher Grund für den Zorn der englischen Fans ist, daß es sich hier ausgerechnet um den Grand Prix von England in Silverstone handelt! Aber ich kann schließlich auch nichts dafür, daß Graham Hill Silverstone nie gewonnen hat. Vierzehn Grand-Prix-Siege, zwei Weltmeistertitel (1962 und 1968), doch nicht ein einziger Sieg zu Hause.
    Die Engländer sollen sich also beruhigen. Wenn ich nur an Steve denke, meinen englischen Kollegen. In den siebziger Jahren handelte er ausschließlich mit James-Hunt-Artikeln, in den Achtzigern lebte er von Nigel Mansell und in den Neunzigern von Graham Hills Sohn Damon. Doch in all den Jahren hielt er Graham Hill die Treue und führte die Graham-Hill-T-Shirts noch in seinem Sortiment, als kein Hahn mehr danach krähte. Meine Jochen-Rindt-T-Shirts dagegen haben sich immer gut verkauft. Sehr zu Steves Leidwesen. (Obwohl Rindt schon fünf Jahre länger tot ist als Hill!)
    Meine Startaufstellung hätte Steve auf die Palme gebracht. Keine Spur von englischer Zurückhaltung. Wenn ich heute zurückdenke, war das nervöse Bürschchen mit der arroganten Himmelfahrtsnase einer der nettesten meiner Kollegen. Nur was die englischen Fahrer betraf, verstand er einfach keinen Spaß. Wenn ich ehrlich sein soll, ist das sogar ein bißchen mit der Grund, daß Graham Hill beim Grand Prix der Unschlagbaren in Silverstone oft so weit hinten starten muß.
    In anderen Nächten lasse ich Graham Hill ohnehin aus der zweiten, vielleicht sogar aus der ersten Reihe starten. Er gewinnt Monaco, er wird zweiter in Spa-Francorchamps. Es gibt so viele Rennen, wie es Nächte gibt. Meist beginne ich mit realistischen Startaufstellungen, die sich aber, je näher ich dem Schlaf komme, zu immer unwahrscheinlicheren Rennverläufen entwickeln. Jo Siffert führt auf dem neuen Nürburgring, obwohl Siffert den neuen Nürburgring gar nicht mehr erlebte. Gilles Villeneuve gewinnt den Weltmeistertitel durch ein Sicherheitsrennen. Obwohl Gilles Villeneuve unfähig war, auch nur eine einzige Runde auf Sicherheit zu fahren, und genau deshalb nie Weltmeister wurde. Senna verliert ein Regenrennen. Graham Hill gewinnt in Silverstone.
    Natürlich ist es immer ein mißlungenes Rennen, wenn ich den Zieleinlauf erlebe. Das bedeutet, daß ich nicht eingeschlafen bin. An nervösen Tagen habe ich auch Probleme, das Rennen regulär ablaufen zu lassen. Teamchefs protestieren gegen die Trainingsergebnisse, wegen eines Gewitters muß das Rennen abgebrochen und neu gestartet werden, und ich gerate, anstatt einzuschlafen, in eine immer nervösere Hektik. Je länger ich wegen gelber Flaggen und Gewichtsunterschreitungen diskutieren und gestikulieren und in der Gegend herumschreien muß, um so wacher werde ich.
    Unfälle dagegen stören mich nicht. Unfälle beruhigen mich. Es hat nichts Trauriges, einen Menschen sterben zu sehen, der längst tot ist. Oft schon versetzte mich das Feuer, das Ronnie Peterson oder Roger Williamson oder Jo Siffert das Leben kostete, in die Lage, mich der Wärme meines Bettes hinzugeben und wohlig einzuschlummern.
    Diese Einschlafprobleme haben nichts damit zu tun, daß ich wegen Mordes zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurde. Ich sitze ja erst seit einem halben Jahr im Hochsicherheitsgefängnis von Stein. Zuvor allerdings schon das Jahr in Graz-Karlau. Und davor die Untersuchungshaft. Aber die Probleme mit dem Einschlafen habe ich schon, solange ich mich erinnern kann.
    Auch den Grand Prix der Unschlagbaren habe ich nicht hier im Gefängnis erfunden, nicht aus der tödlichen Langeweile des Häftlings heraus. Ich weiß nicht mehr, wann ich diese Methode gegen Einschlafprobleme entdeckte. Vor zehn, vor fünfzehn, vor zwanzig Jahren? Die Zeit vergeht so schnell, und ich fürchte mich vor dem Tag, wo ich wieder in Freiheit bin.
Kyalami
    Es geschieht bestimmt nicht aus Lust am Schmerz anderer Menschen, wenn ich mir vor Augen führe, wie der eine oder andere Pilot
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher