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Auserkoren

Titel: Auserkoren
Autoren: PeP eBooks
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zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Zuerst halte ich sie für Anfang zwanzig, aber als sie neben mir am Wagenfenster steht, sehe ich, dass sie älter ist.

    »Ich bin so froh, dass du hier bist, Kyra«, sagt sie, als ich aussteige. Sie lächelt übers ganze Gesicht.
    Officer O’Neil steigt aus und umarmt mich zum Abschied. Mir schießen Tränen in den Augen. Am liebsten würde ich wieder mit ihr ins Polizeirevier zurückfahren.
    »Wir sehen uns noch«, sagt sie in mein Haar. »Ich werde bald nach dir schauen.«
    »Okay.« Meine Stimme ist nur ein Flüstern.
    Sofort nimmt mich Samantha bei der Hand. »Lass uns reingehen.« Wir gehen auf die Lichter, auf das Haus, auf das Mädchen zu.
    Aber dann bleibe ich stehen. Ich drehe mich um und sehe Officer O’Neil nach, wie sie wegfährt. Dann schaue ich den Autos nach, die auf der Straße vorbeifahren, so nah, dass man fast nur die Hand ausstrecken müsste, um sie zu berühren. Ich sehe mir alles an.
    Meine Familie ist keine fünfzig Meilen von hier entfernt. Ich kann mich kaum bewegen, kaum einen Atemzug tun, wenn ich daran denke, dass sie jetzt ohne mich leben müssen.
    Der Wind frischt auf und ich rieche etwas Süßes. Rosen vielleicht? Samantha nimmt mich am Arm. »Am Anfang ist es immer schwer«, sagt sie. Sie spricht leise, als trüge der Wind ihre Stimme zu mir.
    Ich würde gern nicken, würde sie gern wissen lassen, dass ich sie höre, aber ich kann es nicht.
    »Ich bin selbst weggelaufen, Kyra«, sagt sie.
    Ich sehe sie nicht an.
    »Nicht von der Erwählten, sondern von den Bibeltreuen.
Mir ist es wie dir ergangen. Ich habe die Hölle durchgemacht.« Sie lacht. Obwohl es gar nichts zu lachen gibt, lacht sie. »Ich bin weggelaufen. Und sie sind mir gefolgt.«
    Jetzt sehe ich ihr in die Augen.
    »Ich bin mehr als nur einmal weggelaufen. Ich war sechzehn und verheiratet. Ich hatte ein Baby. Irgendwie habe ich es geschafft, dass wir beide davongekommen sind.«
    Ich blicke zu dem Mädchen auf der Veranda. Es ist ungefähr so alt wie ich.
    »Das ist meine zweite Tochter, Madison«, sagt Samantha. »Die erste studiert an der Universität.«
    Dann schweigen wir beide. Schließlich sagt Samantha: »Wie ich gehört habe, sind sie dir gefolgt.«
    »Ja«, antworte ich.
    Mein Kleid scheint plötzlich über den Handgelenken zu spannen. Sie blickt mich an.
    »Und wie ich sehe, haben sie dich auch schlimm verprügelt.«
    »Ja.«
    »Sie achten darauf, dass ihre jungen Leute nicht aus der Reihe tanzen, nicht wahr? Sie könnten ihnen sonst gefährlich werden.«
    Ich blicke in die Richtung, in die Officer O’Neil gefahren ist.
    »Ich wette, du bist halb verhungert«, sagt Samantha. »Lass uns etwas essen gehen, was hältst du davon?«
    »Darf ich auch mitkommen, Mom?« Madison ist leise von hinten herangekommen. Sie trägt Bluejeans
und ein Top mit ganz kurzen Ärmeln. Man sieht ihren Büstenhalter. Ich schaue weg. Ich werde nie etwas anziehen, bei dem man meinen Büstenhalter sieht. Niemals!
    »Aber natürlich«, sagt Samantha. Sie legt den Arm um ihre Tochter. »Gehen wir ins Pfannkuchenhaus.«
     
     
    Das Auto.
    Das Restaurant.
    Ich frage mich, wie ich mich jemals zurechtfinden soll hier draußen in der Welt. Weit weg von zu Hause und bei Sündern, deren Büstenhalter man sieht.
    Mein Haarschnitt, meine Blessuren, die Erinnerung an die Worte, die ich erst vor Kurzem gehört habe, Polygamisten, das sieht man schon an ihrem Aufzug , das alles trennt mich von diesen Menschen, lässt mich nicht zu ihnen gehören. Die Leute sehen uns hinterher, als wir in das Lokal gehen und einen freien Platz suchen. So wie damals bei Applebee’s. Aber damals waren meine Mütter dabei. Damals war Laura dabei.
    Jetzt bin ich in der Gesellschaft von Menschen, die ich nicht kenne.
    »Hast du auch Brüder und Schwestern?«, fragt Madison. Sie beobachtet mich die ganze Zeit über aus den Augenwinkeln. Vielleicht hat sie ja noch nie jemanden gesehen, der geschlagen worden ist. Zuerst bin ich wütend, weil sie mich so verstohlen mustert. Aber ihre Frage lässt meinen Zorn dahinschmelzen.
    »Ja«, sage ich. »Eine ganze Menge sogar.« Ich mache
eine Pause. »Meine Mutter hat vier Mädchen.« Nein, das stimmt ja nicht. »Meine Mutter hatte vier Mädchen. Jetzt hat sie nur noch drei.«
    Eigentlich sind es fünf , sagt eine Stimme in mir, aber ich überhöre sie.
    Madison nickt. »Ich bin die Jüngste.« Sie zieht eine Grimasse.
    So wie Mariah , sagt die Stimme.
    »Wir haben viel zu tun morgen«, sagt
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