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Auserkoren

Titel: Auserkoren
Autoren: PeP eBooks
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Tagebuch.
    »Wir haben noch fast eine Stunde Zeit, bis der Prophet vorbeikommt«, mischt sich Laura nun ein. »Aber glaubt ja nicht, dass ich eure traute Unterhaltung belauschen wollte.« Laura grinst mich an. Unser Wohnwagen ist so klein, dass einer hören kann, was der andere denkt.
    »Wenn ihr mich ruft, werde ich sofort kommen«, verspreche ich. Meine Mutter nickt, dann sinkt sie aufs Sofa zurück und schließt die Augen.
     
     
    Ich gehe hinaus zu den Ölweiden am Rand unserer Siedlung.
    Wir haben es gut, unser Wohnwagen steht gleich neben diesen Bäumen, die ich so sehr mag. Ich mag ihren Geruch im Frühling und ich liebe das Silbergrau ihrer Blätter. Ich mag es, wenn die Blätter im Sommer so dicht sind, dass ich mich in ihnen verstecken kann. Ich mag es, wenn ich dort für mich allein sein kann. An einem
Baum habe ich die spitzen Stacheln der unteren Äste entfernt.
    Danach hat meine Mutter zu mir gesagt: »Kyra Leigh Carlson! Warum in aller Welt hast du mein bestes Küchenmesser genommen, um an einem Baum herumzuschneiden? In deinem Alter sollte man wissen, dass man so etwas nicht tut.«
    »Es ist besser, als von den Dornen gestochen zu werden«, antwortete ich, und sie machte ein Geräusch mit der Zunge, das sich anhörte wie ein Huhn, das im Hühnerkäfig gackert.
    Ich konnte ihr natürlich nicht sagen: »Ich brauche einen Platz, an dem ich für mich sein kann, an dem ich ungestört atmen kann. Deshalb habe ich das Messer genommen.« Was ich auch nicht sagen konnte, war: »Mutter, ich bin jetzt beinahe vierzehn Jahre alt, und ich bin keine Minute allein, ausgenommen wenn ich auf der Toilette sitze, und sogar dann will Carolina reinkommen, und ich muss die Tür mit dem Fuß zuhalten, denn das Schloss ist schon wer weiß wie lange kaputt.« Ich konnte ihr nicht sagen: »Es gibt Tage, da muss ich allein sein.« Stattdessen zuckte ich einfach mit den Schultern.
    Ich klettere also auf den Baum und setze mich auf den höchsten Ast. Mein Kleid spannt über meinen Knien und ich ziehe es ein bisschen nach oben.
    »Danke, Jesus«, sage ich. Und ich meine es wirklich so.
    Die ganze Familie ist in Aufregung, weil uns der Prophet besuchen will. Alle sind deshalb ganz aus dem Häuschen.
    »Keiner ist deshalb verwirrt«, sage ich. »Nur ich.«

    In meiner Familie gibt es kein Kind, keine Mutter, die den Propheten nicht verehrt.
    »Ich verehre ihn auch«, murmle ich vor mich hin. »Manchmal jedenfalls.«
    Aber mein Leben ist gerade dabei, sich zu verändern. Ich lerne dazu. »Ich werde erwachsen«, sage ich in die Nachtluft hinein. Ich bin sicher, ich bin die Einzige unter den Erwählten, die sich schon einmal gewünscht hat, der Prophet wäre tot und würde von Termiten aufgefressen.
    Ich spähe durch das Geäst der Ölweiden auf unsere Siedlung. Wenn ich die Blätter beiseiteschiebe, kann ich von hier aus fast alles übersehen. Den Rasen vor den Häusern des Propheten und seiner Apostel, den Laden, den Tempel und den Gemeindesaal, in dem wir unterrichtet werden und in dem wir uns auch an Mittwochabenden versammeln. Alles sehe ich. Und niemand kann mich sehen.
    »Hmm«, sage ich und atme mit geschlossenen Augen tief ein. Es riecht so gut, das Alleinsein.
    Nachdem ich einen Moment lang so sitze, schlage ich die Augen auf und schaue dorthin, wo ich zu Hause bin, ich sehe es eher vor meinem inneren Auge, denn es ist schon zu dunkel, um Einzelheiten erkennen zu können: das kümmerliche Gras und den rötlichen Wüstensand, die Silhouetten meiner beiden jüngsten Schwestern vor dem Schlafzimmerfenster. Von meinem Platz aus kann ich die drei Wohnwagen meines Vaters sehen, in denen meine Mütter wohnen. In manchen Nächten, wenn ich hier oben sitze, erkenne ich meinen Vater an seinem
Schatten hinter einer der Gardinen, und dann weiß ich, mit wem er diese Woche verbringt.
    Dieser Platz auf dem Baum gehört mir ganz allein. Ich war so oft hier oben, dass mein Hintern schon fast einen Abdruck auf den Ästen hinterlassen hat. Und ich habe niemandem etwas von meinem Versteck erzählt. Nicht einmal Laura, meiner Lieblingsschwester. Hier kann ich nachdenken, ohne dass ich dabei ein kleines Kind streicheln, einen Kranken pflegen oder mich um sonst etwas kümmern müsste. Hier kann ich Pläne schmieden und Träume träumen und meinen Hoffnungen nachhängen.
    »Ich bin so gern hier oben«, sage ich leise. »Es ist so schön, wenn ich alles sehen kann, aber von niemandem gesehen werde.«
    Ein Windhauch weht über die Wüste und lässt
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