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Auserkoren

Titel: Auserkoren
Autoren: PeP eBooks
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Himmel ist schon fast ganz schwarz.
    Mutter Sarah sitzt neben Vater, sie hat sich an ihn gelehnt. Er tätschelt ihre Hand, streichelt meine Brüder, die auf seinem Schoß sitzen. Mutter Victoria sorgt dafür, dass die Kleinsten leise sind, und erzählt ihnen eine Geschichte von Jesus. Mutter Claire wischt die ohnehin schon blitzblanke Küche.
    Adam, mein ältester Bruder, sieht mich an, als wollte er etwas sagen. Emily, die nicht ganz richtig im Kopf ist und die, wenn sie gesund wäre, eigentlich die älteste Schwester wäre, läuft aufgeregt hin und her. Allen von uns, die wir dicht gedrängt beisammensitzen, fasst sie an den Kopf. »Eins, zwei, drei«, singt sie, aber »ins faule Ei« lässt sie weg, denn wir spielen nicht Fangen. Wir warten auf den Propheten.
    Wir warten auf den Gesalbten Gottes.
    Doch während ich meinen Müttern zusehe, während ich meinen Vater anschaue, dessen Wangen hoffnungsvoll gerötet sind, während ich meinen Geschwistern um mich herum zuhöre, bohrt sich der Schmerz tief in mein Innerstes. Ich schließe die Augen ganz fest. Kann Adam meine Gedanken lesen? Hat er deshalb zu mir herübergeblickt?
    Ich habe Unheil über meine Familie gebracht. In diesem
Moment bin ich fest davon überzeugt. Mir ist, als hätte jemand einen Kübel Eiswasser über mich geschüttet. Mir ist, als steckte ich gerade mitten im Schnee.
    Mein Vater ist rein. Meine Mütter. Meine Brüder und Schwestern. Emily erst recht.
    Aber ich nicht.
    Ich nicht!
    Ich wollte jemanden umbringen. Nein! Nicht irgendjemanden! Ich wollte den Propheten umbringen. Gottes Gesalbten. Den Erwählten des Herrn.
    Und das ist noch nicht alles. Bei Weitem nicht alles.
    Ohne nachzudenken, stehe ich auf. Ich muss hier raus. Ich muss weg. Ich muss zu meinem geheimen Versteck, damit ich alleine und ungestört bin. Nur weg von hier. Vielleicht sind sie dann vor meinen unreinen Gedanken sicher. Vor meinen Vergehen.
    »Eins, zwei, drei«, singt Emily. Sie streckt die Hand nach meinem Kopf aus.
    »Setz dich hin, Kyra«, sagt Mutter Claire. Sie steht an der Spüle und wringt ein Tuch aus. »Wir warten auf den Erwählten des Herrn.«
    »Ich muss gehen«, sage ich. Nathaniel und Laura starren mich neugierig an. »Ich habe etwas vergessen.«
    »Kyra«, sagt Vater, »was immer es auch sein mag, es kann warten.«
    »Nein, Vater«, sage ich. Ich merke, dass ich rot werde. Meine Sünden stehen mir bestimmt ins Gesicht geschrieben. »Ich muss weg. Ihr könnt mir ja erzählen, was geschehen ist. Der Prophet wird es gar nicht bemerken, dass ich nicht da bin.«

    »Kyra«, sagt Mutter. »Setz dich. Bitte.«
    Mutter Victoria schnauft. »Er bemerkt alles. Er sieht alles. Er würde sofort wissen, dass du nicht da bist.«
    »Kyra Leigh«, sagt meine Mutter noch einmal, und ihre Stimme ist sanft in diesem Raum, in dem sich meine Familie drängt. »Gehorche deinem Vater.«
    »Ja, Frau Mutter«, antworte ich und lasse mich aufs Sofa fallen. Dann flüstere ich, so leise, dass mich auch die Geschwister, die gleich neben mir sitzen, nicht hören können: »Gott im Himmel, vergib mir. Vergib mir. Vergib mir.« Wieder und immer wieder wiederhole ich dieses Stoßgebet.
    Ich darf kein Verderben über diese Familie bringen.
     
     
    Zugegeben, es ist nicht nur, weil ich den Tod von Prophet Childs geplant habe. Da ist noch mehr. Noch viel mehr.
    Eingezwängt zwischen meinen Geschwistern, versuche ich, nicht an meine Sünden zu denken, aber sie sind in meinem Kopf. Ich werde sie nicht los.
    Als Erstes die Bücher.
     
     
    Dass ich auf die Bibliothek gestoßen bin, war ein Zufall.
    Prophet Childs würde keinem von uns erlauben, Bücher aus einer öffentlichen Bibliothek zu entleihen.
    »Wir haben unseren Glauben«, pflegt er zu sagen. »Wir haben die Freiheit, die uns Gott schenkt. Und dies wird uns niemand nehmen, denn wir lassen nicht zu, dass uns jemand mit den Lehren Satans das Gehirn vernebelt.«

    Jenseits der Grenze unserer Siedlung, auf die andere Seite der Umzäunung, über den Fluss, außerhalb unseres Gebietes bin ich gelaufen. Dort war ich und habe nach Norden geschaut, wo Florentin liegt. Ich erinnere mich genau, es war ein klarer Tag.
    Es war der 13. August. Ein Mittwoch, am späten Nachmittag. Es war ein glutheißer Tag. So heiß, dass einem die Spucke im Mund antrocknete. So heiß, dass ich dachte, auch meine Augen trocknen aus, während ich die leere Landstraße entlangblickte. Die Arbeit zu Hause für meine Mutter und die anderen Mütter war getan - jedenfalls
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