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Auserkoren

Titel: Auserkoren
Autoren: PeP eBooks
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konnte Mutter Victoria nichts davon erzählen, wie jemand ertrunken ist, weggelaufen ist, gemalt hat.
    Stattdessen schlang ich die Arme um ihre Hüfte und sagte, den Kopf an ihre Schulter gelehnt, während ich mir die Augen rot weinte: »Ich hab dich lieb, Mutter Victoria.«
    Dann machte ich mich auf den Weg und trug das Brot zu meinen anderen Müttern und zu Schwester Allred, die gerade ein Baby bekommen hatte, während ich immer noch mit den Tränen kämpfte.
     
     
    Meine Sünden.
    Der Plan. Die Bücher. Und ein Junge.
    Da ist auch noch ein Junge.

    Oh, es liegt mir schwer auf der Seele, was ich getan habe. Aber niemand scheint das zu bemerken.
    Mariah streckt die Hand nach mir aus. Ich schaue weg. Ich bin zu aufgeregt, um Mariah zu nehmen, die kleine Mariah.
    Ich fasse Lauras Hand und strenge mich an, nicht an das zu denken, was ich getan habe. Und dabei spreche ich unaufhörlich meine Stoßgebete vor mich hin.
    Alle unterhalten sich flüsternd, alle haben sich herausgeputzt, heute, an einem Dienstagabend. Sie haben die Haare mit Wasser gebändigt oder zu Zöpfen gebunden.
    Mariah, die jetzt ganz still ist, hat die Hände immer noch nach mir ausgestreckt.
    Ich stehe wieder auf.
    »Kyra?«, sagt Vater fragend.
    Mutter Sarah schaut mich an. »Geht es dir gut, Liebes?«
    »Ich will …« Mitten im Satz breche ich ab. Was will ich eigentlich? Gehen? Bleiben? Davonlaufen? Mich verstecken? »Ich wollte gerade Klavier spielen«, sage ich. Eine große, dicke Lüge. Noch eine Sünde mehr zu all den Sünden, die ich ohnehin schon auf mich geladen habe.
    Laura zieht mich an der Hand und ich setze mich wieder neben sie.
     
     
    Bei uns gibt es nur wenige Klaviere.
    Prophet Childs hat einen Konzertflügel in seinem Wohnzimmer. Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Durch das große Glasfenster. Schneeweiß und glänzend ist er, dieser Flügel. Es muss ein Konzertflügel sein. Er
glänzt so, ich glaube, man könnte sich darin spiegeln. Der Prophet wohnt in einem Haus, das aus Ziegelsteinen erbaut ist, es ist so groß, dass es einen langen Schatten auf den Rasen wirft, wenn die Sonne aufgeht. Auch die Apostel haben eigene Häuser und Klaviere. Apostel zu sein, heißt nicht nur, dass man in der besonderen Gnade Gottes steht, man steht auch hoch in der Achtung der Menschen. So hat man es uns beigebracht und es scheint auch wahr zu sein.
    Im Tempel stehen drei Klaviere, aber ich habe nur auf dem einen im Versammlungsraum gespielt, als Schwester Georgia krank war. Zwei weitere Klaviere stehen im Gemeindesaal. Eines ist ein altes Kawai-Klavier. Mein Lieblingsinstrument.
    Eines Sonntagmorgens nach der Versammlung ging ich zu diesem Klavier und fing an, Twinkle, Twinkle Little Star zu spielen. Einfach so. Als hätte ich diese Melodie schon immer im Kopf gehabt. Damals war ich fast vier Jahre alt.
    »Ist das zu fassen?«, rief Mutter Sarah. Sie lief zu mir, drückte mich an sich und sagte: »Habt ihr gehört, wie sie dieses Lied gespielt hat?«
    Schwester Georgia, die vor langer Zeit außerhalb der Siedlung Klavierunterricht gegeben hatte, bevor sie den Ruf verspürte, eine Erwählte zu werden, unterrichtete jeden, der es wollte. Meine Mutter zögerte keinen Augenblick, damals, vor zehn Jahren, als ich zum ersten Mal ein Liedchen geklimpert hatte. Sie ging gleich mit mir zu Schwester Georgia und sagte: »Kyra ist musikalisch. Man muss ihr Unterricht geben.«

    Und ich sagte: »Das stimmt.«
    Wenn ich spiele, vergesse ich alles um mich herum. Schon seit ich ein kleines Mädchen war, ist das so. Ich spüre die Töne unter der Haut. Ich spüre die Musik in meinen Muskeln. Manchmal träume ich sogar Partituren von Mozart oder Beethoven. Wenn dann die Menschen in meinen Träumen sprechen, kommen keine Worte, sondern schwarze Noten aus ihrem Mund. Und ich verstehe alles, was sie sagen. In meinen Träumen verstehe ich alles ganz genau.
     
     
    »Jetzt kannst du nicht Klavier spielen«, sagt Vater. Und in dem Moment, in dem er das sagt, klopft es an der Tür.
    »Sie sind da«, sagt Margaret, und Mutter Sarah fügt hinzu: »Sie sind gekommen, um uns zu besuchen.« Sie setzt sich kerzengerade hin. Sie ist blass, und im Licht der nackten Glühbirne, die von der Decke baumelt, sehe ich, dass ihr Gesicht schweißnass ist. Bestimmt geht es ihr gar nicht gut.
    Vater stellt Trevor und Foster auf den Boden und geht zur Tür. Schnell schicke ich noch ein Stoßgebet zum Himmel. »Bitte, lieber Jesus. Bitte.«
    Alle schweigen.
    Nur das Klappern von
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