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Auserkoren

Titel: Auserkoren
Autoren: PeP eBooks
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ich.
    »Die Kader Gottes«, sage ich.
    Ich gehe an die Seite des Polizeiautos. Im Seitenspiegel sehe ich das Blaulicht blitzen, das einen blinkenden Schein auf mich wirft.
    »Mein Schatz«, sagt Officer O’Neil und fasst mich an der Schulter, »was ist mit dir?«
    Ich sehe sie an, und da bin ich wieder, in ihrer Sonnenbrille. Zweimal ich. Ich kann nicht antworten. Ich
starre nur auf mein Spiegelbild. Was ich da sehe, das bin ich . Ich habe mich überhaupt nicht verändert. Kein bisschen. Ich fahre mit den Fingern über meine Lippen, sehe all die blauen Flecken im Morgenlicht, sehe, wie mein Mund langsam verheilt. Ich höre das Knacken des Sprechfunks im Polizeiauto.
    Wie kann das sein?
    Ich war mir sicher, ganz sicher, dass ich mich verändert habe. Ich war ganz sicher, dass nur mein neues Ich weglaufen konnte. Dass, wenn ich mich sähe, eine ganz andere Person aus mir geworden wäre. Ich war mir sicher, dass nur mein neues Ich es schaffen würde.
    Die Leere in mir füllt sich langsam wieder.
    »Komm, mein Schatz«, sagt Officer O’Neil, »setz dich.« Sie zeigt auf den Rücksitz des Polizeiautos und ich steige ein.
    »Was ist?«, fragt sie.
    Ich schaue sie an, schaue mich an und sage: »Ich bin immer noch da.«
    »Wie?« Sie schiebt die Sonnenbrille hoch. Ihre Augen sind dunkelbraun.
    »Ich dachte …« Ich weiß nicht recht, was ich dachte. »Ich dachte, sie würden mich auch umbringen.«
    Officer O’Neil streicht mir sanft über die Wangen. »Nein, mein Kind«, sagt sie, »jetzt bist du in Sicherheit.«
     
     
    Ich erzähle den Polizisten alles, jede Einzelheit, obwohl mein Herz so tut, als wolle es jeden Moment stehen bleiben. Ich erzähle ihnen von den verschwundenen Jungen
und von Bill und von Ellen. Ich erzähle ihnen alles über Patrick und die Gräber der kranken Kinder. Ich erzähle ihnen von den Schlägen, dem Bücherverbrennen und dass die Mädchen für die alten Männer aufbewahrt werden. Ich rede und rede, bis meine Kehle brennt, dann trinke ich den Orangensaft, den sie mir hingestellt haben. Ich rede unter Tränen, und manchmal bin ich so zornig, dass mir der Kopf wehtut.
    Nachdem ich ihnen alles erzählt habe, was ich weiß, sagen die Polizisten, dass sie mich in ein sicheres Haus bringen werden.
    »Ein sicheres Haus?«, frage ich Officer O’Neil, als wir uns auf den Weg machen. Mir fällt ein, dass Joshua etwas von einem sicheren Unterschlupf gesagt hat. Ob er auch dort ist?
    Es ist Abenddämmerung, und auf den Straßen wimmelt es von Autos, die Gehwege sind voller Menschen. Ob sie wohl nach Hause gehen? Mir tut alles weh vom Weinen und Reden und Weinen und Reden.
    Officer O’Neil blickt mich an, dann nimmt sie meine Hand.
    »Ein Ort, an dem du sicher bist, Kyra«, sagt sie. Sie räuspert sich. »Es wurde ein Haftbefehl ausgestellt für Mark Childs und die anderen Verbrecher.«
    Mit Verbrecher meint sie die Kader Gottes.
    Wir schweigen einen Augenblick.
    »Immer wieder einmal kommt einer von den Erwählten zu uns«, sagt sie und setzt den Blinker. Sie wendet den Wagen und jagt die Straße hinab. »Wir bringen sie dann zu Samanthas Herberge.«

    »Wohin?«
    »Wenn Polygamisten fliehen, dann kommen sie manchmal in diesem Haus unter. Wenigstens für ein, zwei Tage. Oder bis wir sie bei einer Pflegestelle unterbringen können.«
    »Oh.« Ich blicke aus dem Fenster. Bei einer Pflegestelle. Ist Joshua dort gelandet? Sind die verlorenen Jungen alle in Samanthas Herberge? Die Fahrt dauert eine Weile. Das Funkgerät im Auto von Officer O’Neil hat Nachrichten für sie und für andere Leute. Ich brauche nicht zu reden.
    Der Himmel ist jetzt beinahe purpurblau. Der Straßenrand ist mit Häusern gesäumt. Es sieht hier weniger wie in der Stadt, sondern eher wie auf dem Land aus. Manche Häuser sind groß, andere sind kleiner. Aber in fast allen brennt Licht. Das Licht, das aus den Fenstern scheint, lässt mein Herz schwer werden. Meine Familie fehlt mir. Ich sehe im Geiste Laura, sehe, wie sie mir nachwinkt, während ich wegfahre.
    Officer O’Neil biegt in die Auffahrt eines Hauses ein, um das ringsum eine Veranda verläuft. Eine Frau lehnt am Geländer. Neben ihr steht ein Mädchen. Aber nirgendwo ist Joshua zu sehen. Kein Joshua.
    »Das ist Samantha«, stellt Officer O’Neil die Frau vor. »Wir haben ihr von dir erzählt, und sie hat gesagt, sie könne es kaum erwarten, dich kennenzulernen.«
    Ehe der Motor steht, ist sie schon bei uns. Sie trägt ein rosafarbenes Top und Bluejeans. Ihr Haar hat sie
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