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Auserkoren

Titel: Auserkoren
Autoren: PeP eBooks
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geben.
    Ich kann nur an Patrick denken. Was ist mit Patrick geschehen?
    Am nächsten Tag, als ich die Rollende Bibliothek von Ironton sehe, die sie in der Nähe meiner Ölweiden mehr schlecht als recht versteckt haben, weiß ich, dass etwas furchtbar schiefgelaufen ist.
    Beim Anblick des Fahrzeugs stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ich werde langsamer, tue so, als ob es mich nicht interessiere, aber ich schaue trotzdem hin.
    Und dann kommen die Männer. Sie treten aus dem Schatten des Lieferwagens heraus. Es sind zwei Leibwächter des Propheten. Richtige Hünen. Ich weiß, dass sie wissen, dass ich nur so tue, als sähe ich den Wagen nicht.
    Sie beobachten, wie ich vorbeigehe. Bruder Nelson schiebt seine Sonnenbrille auf die Stirn, ich sehe seine Augen. Er macht eine Kopfbewegung, als wolle er sagen: »Du.«

    Sie haben das Auto absichtlich hier abgestellt. Hier, wo ich es sehen kann. Um es mir zu zeigen. Damit ich Bescheid weiß. Ohne ein Wort geben sie mir damit zu verstehen, dass ich mich benehmen soll, dass ich tun soll, was man mir sagt. Sonst. Sonst werden sie mit mir das Gleiche machen, was sie mit Patrick gemacht haben.
    Ich gehe weiter, obwohl ich am liebsten zu meinen Ölweiden zurückrennen möchte. Oder zum Wagen. Um Patrick zu suchen. Meine Lippen sind taub. Mir ist schwindelig. Meine Hände sind eingeschlafen.
    Mir ist kotzübel, ich muss würgen. Gleich werde ich mich übergeben, hier an Ort und Stelle, in unserem Garten, während sie mir zusehen, wie ich so tue, als sähe ich nichts.
    Aber ich übergebe mich nicht.
    Ich muss zurück nach Hause, einfach nur zurück. Mit dem Handy, das nicht einmal funktioniert, unter meinem Kleid versteckt, so wie ich dort früher Patricks Bücher versteckt habe. Ich muss so tun, als wüsste ich von nichts.
    Aber ich weiß es.
    Ich weiß Bescheid.
    Ich weiß, ohne ihn gesehen zu haben, dass Patrick tot ist.
     
     
    Als sie weg sind, bei Anbruch der Nacht, schleiche ich mich zum Lieferwagen und schaue hinein. Im hinteren Teil des Wagens liegen die Bücher kreuz und quer auf dem Boden. Patricks Schluckspecht-Tasse liegt zerbrochen rechts vorne im Auto. Bin ich etwa draufgetreten,
nachdem sie zu Boden gefallen war? Ich weiß es nicht mehr.
    Sie haben nicht einmal das Blut weggewischt. Die Windschutzscheibe ist voller Blut, das inzwischen braun geworden ist. Auf dem Sitz ist Blut. Auf dem Teppich ist eine Lache. Das Blut ist geronnen, angetrocknet, rissig.
    Patricks Blut, das weiß ich.
    Haben sie ihn im Wagen umgebracht? Wo ist seine Leiche?
    Irgendwie schaffe ich es bis hinüber zu meiner Ölweide. Ich klettere so hoch hinauf, wie ich nur kann. Bis zu den höchsten Ästen, trotz der Dornen. Es macht mir nichts aus, wenn sie mich stechen.
    Mein Freund ist tot.
    Ich weine mit offenem Mund, ohne einen einzigen Laut von mir zu geben. Nicht einen einzigen Laut. Ich weine, bis mir die Luft wegbleibt, und einmal falle ich sogar fast vom Baum. Ich weine, bis ich heiser bin, obwohl ich keinen Ton von mir gegeben habe.
    Meine Familie ruft halblaut nach mir. »Kyra, Kyra, komm nach Hause.«
    Ich komme nicht. Ich bleibe auf dem Baum und weine.
    Der arme Nathan. Die arme Emily. Sie warten, dass Patrick nach Hause kommt. Ich weine, bis der Mond hoch am Himmel steht.
    Dann gehe ich nach Hause.
    Ich krieche neben Laura ins Bett. Und während ich neben meiner Schwester liege, stelle ich fest, dass ich nicht mehr ich bin.

    Ich weiß nicht, wer ich bin. Mutter Claire und Vater und die tote Abigail und Emily und Laura und Joshua und die Musik und Patrick und die Bücher und der Tod - nein, der Mord! - das alles hat mich verändert. Wenn ich jetzt in den Spiegel blicken würde, könnte ich bestimmt sehen, dass unter den blauen Flecken und den Platzwunden alles anders aussieht. Es sind nicht mehr dieselben Augen wie früher. Es ist nicht mehr dasselbe Gesicht wie früher. Es ist nicht mehr dieselbe Haarfarbe wie früher.
    Ich bin nicht mehr ich.
    In dieser Gewissheit schlafe ich ein.
    Ich bin nicht ich. Niemals wieder.
     
     
    Ich weiß nicht, wie spät es ist, als ich aufwache. Vielleicht habe ich nur zehn Minuten geschlafen, vielleicht ist es aber auch schon fast Morgen. Was ich sicher weiß, ist, dass ich immer noch eine andere bin. Ich bin nicht ich. Ich glaube, ich bin inwendig leer.
    Im Halbdunkel sehe ich mein Hochzeitskleid, das auf einem Bügel am Schrank hängt. Es sieht aus wie ein Geist.
    Leise stehe ich auf und suche die Nähschere meiner Mutter. Auf dem Fußboden, dort wo
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