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Auserkoren

Titel: Auserkoren
Autoren: PeP eBooks
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ich zuerst keine einzige Note erkannte. Meine Finger bebten, und einen Moment lang schien ich sie gar nicht mehr zu spüren, sie waren wie taub. Ich spielte die Tonleitern rauf und runter.

    »Das war gut, Kyra«, lobte Joshua und grinste.
    Ich lachte. »Das waren nur Fingerübungen.«
    »Spiel irgendwas«, forderte er mich auf.
    Zuerst wollten mir die Finger partout nicht gehorchen. Dann, als ich Beethoven spielte, vergaß ich fast, dass Joshua neben mir saß.
    Fast.
    Also gut, ich gebe es zu. Die ganze Zeit über warf ich ihm verstohlene Blicke zu.
    Und jedes Mal bemerkte ich, dass auch er mich anschaute.
    »Du bist gut«, sagte er, als ich mit dem Üben fertig war. Er nickte mit dem Kopf zum Klavier hin.
    »Das weiß ich«, antwortete ich. Es sollte nicht eingebildet klingen. Es ist nämlich eine Sünde, wenn man glaubt , man sei besser als andere. Aber es ist ja so: Ich weiß , dass ich besser spiele als alle Erwählten, also bin ich auch keine Angeberin.
    Joshua zog die Augenbrauen hoch. »Und so bescheiden«, fügte er hinzu.
    Ich zuckte die Schultern, aber meine Gedanken galoppierten davon. Ich kann nicht glauben, dass jemand wie du mit mir spricht. Du riechst so gut.
    »Es ist ein ziemliches Stück Arbeit, bis man so weit kommt«, sagte ich. »Das verlangt viel Übung. Und ich will gut sein.« Ich ließ die Hand übers Piano gleiten, dann wandte ich mich wieder der Partitur zu. Ich beugte mich über die Noten und machte Notizen auf die Seiten. Hier, hier und hier musste ich ausdrucksvoller spielen. Und hier mit weniger Betonung.

    »Ich möchte es lernen.« Joshua stand auf und stellte sich neben mich. Er schlug das tiefe E an. Der Ton dröhnte durch den Raum.
    »Schwester Georgia gibt Unterricht«, sagte ich, ohne ihn anzusehen, aber mein Herzschlag dröhnte wie das tiefe E. »Sprich mit ihr. Sag es deiner Mutter. Ich bin sicher, sie hat Zeit für dich.«
    »Meine Mutter?«, fragte Joshua.
    »Natürlich«, sagte ich und grinste. »Und Schwester Georgia auch!«
    »Aber ich möchte es von dir lernen«, entgegnete Joshua. Jetzt stand er hinter mir. Ich spürte seine Knie in meinem Rücken. Sie waren spitz und warm.
    Die Sonne fiel durch das schmutzige Fenster und tauchte den Raum in Farben. Ich roch das Holzöl, mit dem das Klavier poliert war. Ich hörte, wie die Jungen ein Stockwerk höher Basketball spielten, wie sie sich gegenseitig etwas zuriefen.
    Seine Hand lag auf meiner Schulter und ein ungewohntes Glücksgefühl durchströmte meinen Körper.
    »Warum?« Ich müsste weglaufen, ich müsste vor dieser Sünde davonlaufen. Aber irgendetwas in mir gewann die Oberhand und ich wollte einfach nur Joshuas Anwesenheit genießen.
    »Du bist gut. Das hast du selbst gesagt. Meinst du, du könntest mir das beibringen?«
    Seine Hand. Seine Knie. Ich war völlig durcheinander. Ich hätte mich am liebsten umgedreht und ihn umarmt. Woher kamen solche Gedanken?
    »Mal sehen. Vielleicht kann ich es.« Ich weiß nicht, wie
ich es geschafft habe, diese kurzen Sätze auszusprechen. »Ich muss jetzt gehen.« Ich schob die Klavierbank zurück und stand wackelig auf. Joshua und ich durchquerten den Raum. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben.
    »Also, Kyra«, sagte er, als wir vor der Tür standen und uns anschickten, dahin zurückzukehren, was sich Wirklichkeit nennt. »Wie viel verlangst du für die Unterrichtsstunde?« Sein Gesicht war ganz dicht an meinem.
    Meine Stimme versagte. Schließlich stieß ich hervor: »Ich weiß es nicht. Was, glaubst du, ist angebracht?«
    Unsere Gesichter waren sich so nahe, dass ich seinen Atem auf meinen Lippen spürte.
    »Ich werde es herausfinden«, sagte er.
     
     
    Ein kühler Wind weht über die Wüste. Um mich herum hat sich schon alles schlafen gelegt.
    Ich ziehe einen alten Stuhl, mit dem ich schon oft zum Fenster hochgestiegen bin, bis dicht an den Wohnwagen.
    Ich weiß, er schläft zusammen mit drei anderen Jungen in einem Raum. Ich war noch nie bei ihm, ohne es zuvor mit ihm abgemacht zu haben. Er bleibt dann wach. Aber meist kommt Joshua zu mir. Oder er legt mir eine Nachricht unter einen Stein in unserem Garten, dann treffen wir uns in einem dunklen Winkel beim Tempel.
    Aber ich muss mit ihm sprechen. Unbedingt.
    »Joshua«, flüstere ich durch das Fliegengitter, das nach Staub riecht. »Joshua.«

    Ich spreche so leise, dass er mich eigentlich gar nicht hören kann. Und ich zittere. Ich zittere am ganzen Körper. Mein Schienbein tut weh.
    »Joshua«, sage ich,
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